
Produkttest
Hövding, der Airbag für Velofahrer
von Michael Restin
Je mehr sich Velos und E-Bikes zum alltäglichen Verkehrsmittel entwickeln, desto wichtiger werden Sicherheitsfeatures. Zumindest in diesem Punkt ist die Autowelt ein gutes Vorbild.
Mein erster Velohelm war eine schreckliche gelbe Styroporhalbkugel, deren dicke Schaumstoffpolster im Inneren literweise Schweiss aufsaugen konnten. Ich habe mich dafür geschämt. Schliesslich war noch kaum ein Kind derart entstellt unterwegs. Die Abneigung mancher Erwachsener gegen den Sicherheitsgurt im Auto habe ich dagegen nie verstanden. Das Gurtenobligatorium gibt es genauso lange wie mich. Dinge entwickeln sich, werden besser, schöner und irgendwann normal.
Niemand hinterfragt mehr den Sicherheitsgurt. Auch der Velohelm hat sich bewährt. Ansonsten ist beim Auto sicherheitstechnisch viel passiert, während rund ums Velo alles beim Alten blieb. Airbags, ABS, ESP und Sensoren aller Art haben Autos schon lange im Griff. Die Elektronik dominiert die Mechanik. Eine ähnliche Tendenz ist seit ein paar Jahren auch bei Velos zu erkennen, die sich vor allem dank E-Bikes zum boomenden Verkehrsmittel entwickelt haben. Ein positiver Nebeneffekt: Das Thema Sicherheit wird seither weitergedacht.
Bis heute ist der Helm nicht bei allen Velofahrenden beliebt. Er wird als störend empfunden, schlecht eingestellt getragen oder schlicht nicht aufgesetzt, weil er nicht über die Frisur passt. Den Traum vom Helm, der sich nur im Notfall über den Kopf stülpt und dabei noch besser schützt als ein herkömmliches Modell, versucht Hövding mit seinem Airbag-System zu erfüllen. In vielen Fällen gelingt das, aber beim seitlichen Crash mit einem Auto ist er unter Umständen nicht schnell genug.
Wie kann ein Airbag den Helm ersetzen? Das war vielleicht einfach nicht die richtige Fragestellung. Eventuell ist das schützende Luftkissen eine gute Ergänzung und in einem anderen Kleidungsstück besser aufgehoben. Für Motorrad-Fans gibt es schon länger Airbag-Westen, denen vorrangig bei Unfällen bis 50 km/h eine erhöhte Schutzwirkung bescheinigt wird. Das ist ein Geschwindigkeitsbereich, der perfekt zu E-Bikes und den schnelleren S-Pedelecs mit Tretunterstützung bis 45 km/h passt. Kein Wunder also, dass ein ähnliches Produkt für Velofahrende in den Startlöchern steht: Das Unternehmen Urban Circus aus Frankreich ist mit der Airbag-Jacke «Cirrus» auf Kickstarter erfolgreich.
Sensoren an der Sattelstütze und in der Jacke registrieren im Zusammenspiel, wenn du einen unfreiwilligen Abgang machst. Die Luftkammern in der Jacke sollen bei einem Sturz in 0,08 Sekunden gefüllt sein. Dadurch schützen sie Hals, Rücken, Brust und Bauch. Trotz hoher Kosten von mindestens 400 Franken war das Projekt nach 30 Minuten finanziert. In der Jacke steckt die Airbag-Technik von Helite. Neu ist die Integration in ein vielseitiges und wasserdichtes Alltagsdesign, das im entscheidenden Moment heraussticht.
Die Zahl der schweren E-Bike-Unfälle ist in den vergangenen Jahren stark gestiegen. Der Bundesrat will dem Trend unter anderem mit einer Helm- und permanenten Licht-Pflicht begegnen. Studien sprechen dafür, dass Tagfahrlicht mehr Sicherheit bringt. Wer seine Sichtbarkeit konsequent erhöht, ist seltener in Unfälle verwickelt. In der Praxis ist das durch LED-Technik inzwischen einfach umzusetzen. Niemand muss mehr kraftraubend per Dynamo einen flackernden Scheinwerfer am Leuchten halten. Die Leuchtdioden brauchen wenig Strom und lassen sich überall integrieren.
Trotzdem sind viele Lichtsysteme vor allem von der Seite schlecht sichtbar und zwar hell, aber klein. Bei Autos ziehen sich Bremslichter inzwischen quer übers Heck. Am Velo ist der Platz dagegen begrenzt, aber es gibt andere Möglichkeiten: Ich hatte mit dem ersten Helm von Lumos einen Aha-Moment. Bei meinem Test des auffälligen Modells mit Beleuchtung, Blinkern und Bremslicht auf Sichthöhe der Autoinsassen habe ich mich sicherer gefühlt. Gekauft habe ich es trotzdem nicht. Ich habe auf das neue Modell namens Lumos Ultra gewartet.
Und damit war ich nicht alleine. Nie zuvor haben so viele Menschen ein Bike-Produkt auf Kickstarter unterstützt. Fast 25 000 wollten den «Ultra» unbesehen haben. Natürlich gibt es zahlreiche Helme mit integriertem Licht, doch Lumos verfolgt den Ansatz am konsequentesten, guckt sich etwas bei der Autowelt ab und hat damit Erfolg. Blinker, Bremslicht und Beleuchtung am Helm ersetzen weder Handzeichen noch Vorder- und Rücklicht am Bike. Es ist nur eine Ergänzung und die einfachste Art, für mehr Sicherheit zu sorgen. Vielleicht werden beleuchtete (City-)Helme irgendwann zum Standard.
Natürlich ist das nur die offensichtlichste Entwicklung. Auch das Innenleben moderner Helme hat sich verändert. Technologien wie MIPS und Wavecell können die Rotationskräfte beim Aufprall verringern und den Kopf effizienter schützen. Auch Sturzsensoren, die automatisch einen Notruf auslösen und deinen Standort mitteilen können, werden in Helmen immer häufiger eingesetzt. Der Kopfschutz vernetzt sich mit dem Smartphone, das ohnehin immer wichtiger wird. Über dessen Sensoren funktioniert auch das Bremslicht des Helms von Lumos. Andere Ideen sollen dafür sorgen, dass es gar nicht erst zum Notfall kommt.
Wie viel Display braucht es eigentlich? Vergangenes Jahr durfte ich eine Woche lang das Klever X-Speed Pinion testen. Ein S-Pedelec mit Bremsenergie-Rückgewinnung, Wegfahrsperre und allerlei weiterem technischen Schnickschnack. Nur das Display wirkte irgendwie aus der Zeit gefallen, was dem Hersteller etwas unangenehm zu sein schien. Natürlich sei ein neues in der Pipeline, mit Farbe und allem, was die Konkurrenz schon bieten kann. Das ist logisch und zeitgemäss, aber nicht zwingend praktischer. Vielleicht wiederholt sich hier ein Fehler, der im Autobau bereits gemacht wurde.
Anfangs beschränkte sich das Cockpit aufs Wesentliche. Dann explodierte die Anzahl der Anzeigen und Untermenüs auf Kosten der Übersichtlichkeit. Inzwischen sind digitale Kommandozentralen wieder aufgeräumt, multifunktional und vor allem besser im Blickfeld platziert. Eine Lösung dafür heisst Head-up-Display und auch die hat es schon in den Radsport geschafft: Mit dem Abus USEE können sich Gümmeler Daten wie Geschwindigkeit, Leistung und Herzfrequenz oder Navigationshinweise direkt in das kleine Gadget am Helm projizieren.
Dafür gibt es noch keinen grossen Markt. Doch je mehr Menschen auf E-Bikes durch Städte navigieren, desto relevanter wird die Frage nach passenden Lösungen. Vielleicht wandern zentrale Infos ins Blickfeld. Vor den Helm oder an das Visier, das ohnehin immer mehr Fahrerinnen und Fahrer tragen. Vielleicht wird ein Blick aufs Display überflüssig, weil E-Bikes wie bei einem Modellversuch in den Niederlanden bei hohem Verkehrsaufkommen oder extremen Wetterlagen von aussen automatisch ausgebremst werden. Vielleicht verdrängt das Smartphone die klassischen Displays am Lenker und wird über entsprechende Hubs noch zentraler. Oder es übernimmt gleich ganz die Kontrolle über das stufenlose Automatikgetriebe und bestimmt dessen Fahreigenschaften.
Früher waren Autos Autos und Velos Velos. Jeweils eine Welt für sich. Inzwischen wandeln sich beide zum grossteils elektrisch angetriebenen Fortbewegungsmittel, wobei das eine weniger Benzin und das andere weniger Kalorien als früher verbrennt. Im Verkehrsmix der Zukunft werden wir häufiger umsteigen. Das Fahrzeug mag wechseln, das Sicherheitsbedürfnis bleibt gleich. Gut, dass dieses Thema Fahrt aufnimmt. Egal wie die Lösungen aussehen werden – es braucht sie. Nicht nur, was die Infrastruktur angeht. Auch die Ausrüstung wird sich entwickeln und heutige Lösungen schon bald so alt wie meinen gelben Styroporhelm aussehen lassen.
Einfacher Schreiber, zweifacher Papi. Ist gerne in Bewegung, hangelt sich durch den Familienalltag, jongliert mit mehreren Bällen und lässt ab und zu etwas fallen. Einen Ball. Oder eine Bemerkung. Oder beides.