Wie die Beweglichkeit mit zunehmendem Alter abnimmt
Hintergrund

Wie die Beweglichkeit mit zunehmendem Alter abnimmt

Flexibel zu bleiben, ist leichter gesagt als getan. An welchem Gelenk die Jahre besonders nagen und wie sich die Beweglichkeit insgesamt verändert, wurde im Rahmen einer Studie vom Kind bis zum Greis untersucht.

Irgendwann kommt der Punkt im Leben, an dem sich die sportlichen Prioritäten verschieben: Ich musste 40 werden, um ausgiebiges Stretching in meinen Alltag zu integrieren. Und es tut saugut. Alarmiert haben mich mein eigener Körper und Erkenntnisse wie diese: Die Beweglichkeit nimmt zwischen dem zwanzigsten und fünfzigsten Geburtstag mit jedem Jahrzehnt um etwa zehn Prozent ab, musste ich auf der Suche nach der effizientesten Dehnmethode in einer Studie zum Thema lesen. Die zehn Prozent standen nicht in Stein gemeisselt, aber schwarz auf weiss. Natürlich sind sie nur ein reichlich unflexibel formulierter Anhaltspunkt.

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    Welche Dehnmethode am meisten Beweglichkeit verspricht

    von Michael Restin

33 Jahre, 6000 Menschen, ein Flexitest

Forschende aus Brasilien haben sich differenzierter mit dem Thema auseinandergesetzt und von 1978 bis 2011 einen grossen Datensatz angehäuft. In dieser Zeitspanne wurde die Beweglichkeit von 6000 Kindern, Jugendlichen, Erwachsenen und Greisen mit einer einheitlichen Testmethode untersucht. Die jüngste Person war fünf, die älteste stolze 92 Jahre alt. Alle wurden dem sogenannten «Flexitest» unterzogen, der die passive «range of motion» (ROM) in verschiedenen Gelenken erfasst und anhand einer Skala einordnet. Passiv bedeutet, dass eine Kraft von aussen, also der Therapeut oder die Therapeutin, das Gelenk bis in die erträgliche Endposition bewegt. Insgesamt wurden dabei 20 Bewegungen an sieben Gelenken durchgeführt und somit die Beweglichkeit in Knöchel, Knie, Hüfte, Rumpf, Handgelenk, Ellbogen und Schulter bewertet.

Erkenntnis 1: Frauen sind beweglicher und der Unterschied wird grösser

Die statistische Beobachtung, dass Frauen das flexiblere Geschlecht sind, ist wenig überraschend. Die Daten zeigen auch, dass dieser Vorteil im Laufe des Lebens eher grösser als kleiner wird. Die besten individuellen Ergebnisse wurden bei einem sechsjährigen Jungen und einem siebenjährigen Mädchen gemessen. Bis zur Pubertät sind die Unterschiede sehr gering. Schon im frühen Erwachsenenalter ist insgesamt ein Plateau erreicht, danach werden die Ergebnisse sukzessive schlechter: Bei Frauen verringert sich der Score im Flexitest jährlich um durchschnittlich 0.6 Prozent, bei Männern um 0.8 Prozent. Damit wären die Herren zumindest in der Nähe der Faustformel «zehn Prozent pro Lebensjahrzehnt», Frauen sind ein gutes Stück davon entfernt. Aber vor allem der Blick auf die verschiedenen Gelenke ist interessant.

Erkenntnis 2: Wer älter wird, kann nichts mehr auf die leichte Schulter nehmen

Die Entwicklung ist von Gelenk zu Gelenk unterschiedlich und es gibt grundsätzlich eine unschöne Tendenz: Was besonders beweglich sein sollte, ist es immer weniger. Bei Männern geht der Prozess schon mit 30 Jahren los, bei Frauen zeigt sich der Effekt ab dem 40. Lebensjahr. Speziell die Schulter verliert stark an Beweglichkeit und auch der Oberkörper wird zu Beton, während Ellbogen und Kniegelenke anteilig immer mehr zum erreichten Flexindex, der für die Gesamtbeweglichkeit errechnet wird, beitragen. Diese Gelenke beanspruchen wir alle im Alltag, beugen und strecken sie regelmässig und reizen ihre Beweglichkeit stärker aus. Für die Schulter, als Kugelgelenk für die tollsten Bewegungen konzipiert, gilt das weniger. Wer sich bevorzugt auf dem Bürostuhl dreht, büsst auch im Oberkörper einiges ein. Wie du dich mit drei kleinen Übungen immer wieder selbst auf die Probe stellst, kannst du in diesem Beitrag nachlesen – Schultertest inklusive.

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    Der Beweglichkeitscheck durch drei kleine Tests

    von Michael Restin

Erkenntnis 3: Du hast es zumindest zur Hälfte in der eigenen Hand

Die Forschenden gehen davon aus, dass sich nur 50 bis 60 Prozent der über die Jahre gemessenen Beweglichkeitsverluste mit dem Altern erklären lassen. Der Rest geht aufs Konto des Lifestyles der 6000 Probandinnen und Probanden, die zum Grossteil aus der Oberschicht Rio de Janeiros stammen. Mir gibt es zumindest zu denken, dass selbst in der Samba-Hauptstadt relativ früh im Leben die Schultern und Rümpfe einrosten. Die Beweglichkeit wurde nicht nur im Sport, sondern auch in der Wissenschaft lange eher beiläufig behandelt. Sie ist schwierig zu erfassen, schwierig zu messen. Doch je älter eine Gesellschaft wird, desto eher rückt das Thema in den Vordergrund.

Das ist gut so, denn wie beim Krafttraining ist jedes Stretching eine Investition in die eigene Zukunft. Die Daten zeigen, dass die Schere zwischen Beweglichen und Unbeweglichen im Laufe der Zeit weiter auseinandergeht. Wer regelmässig trainiert, profitiert also im Vergleich zu inaktiven Altersgenossen langfristig immer stärker davon. Der negative Trend im Flexitest lässt sich mit drei Yoga-Sessions pro Woche bei Senioren innerhalb eines Jahres nicht nur aufhalten, sondern deutlich umkehren. Es ist eben nichts in Stein gemeisselt. Manchmal kann der Wille Berge versetzen.

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Sportwissenschaftler, Hochleistungspapi und Homeofficer im Dienste Ihrer Majestät der Schildkröte.


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