
Hintergrund
Training mit freien Gewichten oder Maschinen? Das ist hier die Frage
von Claudio Viecelli
Krafttraining ist weit mehr als nur Muskelaufbau. Es wirkt wie Medizin auf den Körper, da es dazu beitragen kann, die Gesundheitsspanne zu verlängern [1–6]. In dieser Serie betrachten wir weitverbreitete Mythen kritisch. Diesmal geht es um Beweglichkeit und Krafttraining.
Die Beweglichkeit eines Gelenks ist der Winkel, um den es sich von seiner Ruheposition bis zum äussersten Punkt seiner Bewegung in eine beliebige Richtung bewegen kann [7]. Diese Definition beschreibt die Fähigkeit eines Gelenks oder einer Muskelgruppe, sich über den gesamten Bewegungsradius ohne Einschränkungen zu bewegen.
Seit Jahrzehnten ist Stretching als Strategie oder Trainingsmethode, um die Beweglichkeit zu erhöhen respektive erhalten, etabliert. Die Wirksamkeit von Stretching zur Erhöhung der Beweglichkeit ist wissenschaftlich fundiert dokumentiert [8–11].
Krafttraining wird dagegen immer wieder nachgesagt, dass es die Beweglichkeit reduziere. Doch stimmt auch das? Welchen Einfluss hat Krafttraining auf die Beweglichkeit.
Es gibt unterschiedliche Arten von Stretching. Statisches und ballistisches Stretching sowie propriozeptives neuromuskuläres Fazilitationstraining (engl. proprioceptive neuromuscular facilitation (PNF)). Das weitaus verbreitetste ist das statische Stretching. Statisches Dehnen ist das Halten einer Dehnposition über einen bestimmten Zeitraum (z.B. 30 s), um die Flexibilität zu erhöhen. Ballistisches Dehnen nutzt schwungvolle, federnde Bewegungen, um die Muskulatur über ihre normale Bewegungsreichweite hinaus zu dehnen, während PNF durch abwechselndes Anspannen und Entspannen der Muskeln die Dehntoleranz und Beweglichkeit verbessert.
In der Forschung gibt es zwei Konzepte, die erklären, wie Dehnen die Flexibilität verbessert. Die erste Idee, die mechanische Theorie [12], besagt, dass sich die Eigenschaften der Muskeln und Sehnen ändern. Das zweite Konzept, die sensorische Theorie [13,14], erklärt, dass der Körper mehr Dehnung aushält, also die Toleranz gegenüber Dehnung steigt [15].
Blazevich et al. [16] untersuchten, wie sich ein dreiwöchiges statisches Wadendehnen auf Beweglichkeit, Muskel- und Nervenfunktion auswirkt. 22 Männer wurden zufällig in eine Dehn- (n=12) oder Kontrollgruppe (n=10) eingeteilt. Die Dehngruppe führte zweimal täglich Wadendehnungen durch (4 x 30 s). Die Kontrollgruppe machte nichts davon. Vor und nach den 3 Wochen wurden Messungen von Beweglichkeit, Muskelaktivität, Nervenreflexen und Muskelarchitektur durchgeführt.
Die Resultate deuten darauf hin, dass die verbesserte Beweglichkeit auf eine erhöhte Dehnungstoleranz, eine verlängerte Faszikellänge sowie eine reduzierte Muskelsteifigkeit zurückzuführen ist, da keine Veränderungen in der Muskelaktivierung oder den Sehneneigenschaften beobachtet wurden.
Konrad, Stafilidis und Tilp [8] analysierten die akuten Auswirkungen von statischem und ballistischem Stretching sowie PNF auf die Muskel- und Sehneneigenschaften des Unterschenkels. 122 Probanden wurden zufällig in vier Gruppen aufgeteilt: statisches, ballistisches und PNF-Stretching sowie eine Kontrollgruppe. Vor und nach einer 4x30 Sekunden dauernden Stretching-Intervention wurden verschiedene Parameter gemessen.
Die Studie zeigte, dass alle drei Stretching-Methoden zu einer signifikanten Erhöhung der Beweglichkeit führten (statisch: +4,3 %, ballistisch: +4,5 %, PNF: +3,5 %). Gleichzeitig bewirkte Stretching eine Verringerung des passiven Gelenkmoments sowie der Muskel- und der Muskel-Sehnen-Steifigkeit. Nur bei PNF-Stretching reduzierte sich die maximale Kraftentwicklung um 4,6%. Ein einzelnes Stretching, unabhängig von der Methode, erhöht also die Beweglichkeit und reduziert die Muskelsteifigkeit.
Auch neuronale Aspekte scheinen eine Rolle zu spielen. Sowohl akutes wie auch chronisches Dehnen führen, auf unterschiedliche Art und Weise der neuronalen Steuerung und Reflexaktivität, zur Erhöhung der Beweglichkeit. Beim akuten Dehnen wird die Erregbarkeit der spinalen Reflexe verringert, was zu einer Reduktion der Muskelspannung führt und so eine kurzfristige Verbesserung der Beweglichkeit ermöglicht. Chronisches Dehnen hingegen senkt die tonische Reflexaktivität, wodurch sich die Beweglichkeit erhöht [14].
Stretching erhöht also die Beweglichkeit. Die entsprechenden Mechanismen involvieren eine Erhöhung der Dehnungstoleranz und eine Reduktion der Muskelsteifigkeit sowie neuronale Aspekte.
Stretching ist nicht die einzige Methode, um die Beweglichkeit zu verbessern. Auch Krafttraining kann die Beweglichkeit fördern.
Eine kürzlich veröffentlichte systematische Review und Metaanalyse [17], die 55 Studien inkludierte, liefert interessante Erkenntnisse zur Wirkung von Krafttraining auf unsere Beweglichkeit. Wer mit Gewichten, an Fitnessgeräten oder beim Pilates trainiert, kann seine Beweglichkeit deutlich verbessern.
Die positiven Effekte des Krafttrainings waren vergleichbar mit denen von klassischen Stretch-Übungen. Auch eine Kombination aus beiden Trainingsmethoden zeigte ähnliche Erfolge wie reines Dehnen. Besonders erfreulich: Menschen, die bisher wenig Sport gemacht haben, profitierten am stärksten vom Krafttraining – ihre Beweglichkeit verbesserte sich mehr als doppelt so stark wie bei bereits sportlich aktiven Personen.
Das Geschlecht der Teilnehmenden und die Art der Muskelanspannung spielten für die Ergebnisse keine wesentliche Rolle. Auch das Alter der Trainierenden sowie die Dauer und Häufigkeit des Trainings hatten keinen nennenswerten Einfluss auf die Verbesserung der Beweglichkeit. Die Studie schlussfolgerte, dass Dehnen vor oder nach dem Training nicht zwingend nötig sei, da bereits das Krafttraining die Beweglichkeit erhöht.
Ähnliche Resultate zeigen weitere systematische Reviews und Meta-Analysen [18,19]. Krafttraining, bei Training über das volle Bewegungsausmass, reduziert demnach die Beweglichkeit nicht nur nicht, sondern kann sie im Gegenteil sogar steigern.
Molekular- und Muskelbiologe. Forscher an der ETH Zürich. Kraftsportler.