
Hintergrund
Krafttraining reduziert die Beweglichkeit - stimmt das wirklich?
von Claudio Viecelli
Krafttraining ist weit mehr als nur Muskelaufbau. Es wirkt wie Medizin auf den Körper, da es dazu beitragen kann, die Gesundheitsspanne zu verlängern [1–6]. In dieser Serie betrachten wir weitverbreitete Mythen kritisch. Diesmal geht es um die Effekte von Proteinzufuhr.
Krafttraining stellt einen robusten Stimulus für das Muskelwachstum dar [7,8]. In Kombination mit der Zufuhr von Proteinen kann das Muskelwachstum, auch Hypertrophie genannt, erhöht werden [9]. Die praktischen Empfehlungen lauten hierfür 1.6 – 2.2 g Protein pro Kilogramm Körpermasse [9,10]
Kein Wunder also, dass der klassische Proteinshake nach dem Training so beliebt ist. Doch wie entscheidend ist der Zeitpunkt? Werfen wir einen Blick darauf, was die Wissenschaft dazu sagt: Ist es wirklich entscheidend, direkt nach dem Training einen Proteinshake zu trinken? Oder könnte es sogar besser sein, ihn vorher zu konsumieren? Vielleicht spielt der genaue Zeitpunkt auch gar keine so grosse Rolle – und wir haben mehr Spielraum, als wir denken?
2007 untersuchten Tipton et al. [11] diese Fragestellung und wollten wissen, wie sich die Proteinsynthese verhält in zwei Gruppen von jungen Männern und Frauen, die 10 Sätze mit jeweils 8 Repetitionen auf der Leg Extension trainierten. Sie unterschieden sich darin, dass eine Gruppe jeweils 1h vor oder nach dem Training 20 g Whey-Proteine konsumierte. Die Proteinsynthese wurde durch Whey Protein angeregt, der Zeitpunkt spielte dabei jedoch keine signifikante Rolle.
Dieselbe Fragestellung untersuchten zu einem späteren Zeitpunkt auch Schoenfeld und sein Team [12]. In einer Studie untersuchten sie, wie sich Kraft und Muskelmasse entwickeln nach einem Krafttraining über 10 Wochen bei 21 krafttrainingserfahrenen Männern. Die Männer wurden in zwei Gruppen eingeteilt. Eine konsumierte jeweils 25 g Whey-Protein und 1 g Kohlenhydrate direkt vor dem Training und die andere Gruppe nahm dasselbe Supplement direkt nach dem Training ein. Trainiert wurde 2-mal pro Woche. Sie stellten keinen signifikanten Unterschied zwischen den Gruppen bei Kraft oder Muskelmasse fest.
Zu einem ähnlichen Schluss kommt eine Meta-Analyse aus dem Jahr 2013, in der die Forschenden schlussfolgerten, dass der Einnahmezeitpunkt keine wesentliche Rolle spielt und das zeitliche Fenster für eine anabole Reaktion vermutlich grösser ist als eine Stunde vor oder nach dem Training [13].
Im Jahr 2020 wurde eine umfassende systematische Übersichtsarbeit mit Meta-Analyse veröffentlicht, die eine zentrale Frage untersuchte: Welche Rolle spielen die Proteinzufuhr und ihr Einnahmezeitpunkt für die Körperzusammensetzung und Kraft gesunder Erwachsener [13]? Die Analyse umfasste 65 Studien mit insgesamt 2907 Teilnehmenden im Alter von 18 bis 55 Jahren sowie ältere Erwachsene zwischen 55 - 81 Jahren. Die Forschenden kamen zu einem wichtigen Ergebnis: Die Proteinsupplementierung hatte einen signifikanten Einfluss auf die Muskelmasse, sowohl bei Erwachsenen als auch bei älteren Menschen. Doch auch diese Meta-Analyse zeigte, dass der Zeitpunkt der Proteinzufuhr keine entscheidende Rolle spielte. Dies wirft die Frage auf, ob eine gezielte Einnahme direkt vor oder nach dem Training überhaupt notwendig ist.
Anfang letzten Jahres erfolgte die nächste systematische Arbeit mit einer Netzwerk Meta-Analyse [14]. Diese umfasste die Analyse von 116 Studien mit 4711 Teilnehmenden. Auch diese Studie zeigte, dass die Proteinzufuhr sowohl vor dem Training als auch die Kombination aus Proteinaufnahme vor und nach dem Training zur Steigerung der Muskelmasse beitragen kann [14].
2024 untersuchten Lak und sein Team [15], ob das Timing der Proteinzufuhr bei krafttrainingserfahrenen Männern einen Einfluss auf die Zunahme der Kraft oder Hypertrophie hat. In dieser einfach-verblindeten randomisierten klinischen Studie trainierten 31 junge Männer (24 ± 4 Jahre) 4-5 Mal pro Woche über 8 Wochen und absolvierten ein Ganzkörperprogramm. Die Teilnehmer führten sechs 24-Stunden-Ernährungstagebücher über vier aufeinanderfolgende Wochentage und zwei nicht aufeinander folgende Wochenenden, damit die gewohnte Proteinzufuhr bestimmt werden konnte. In der Studie wurde die angestrebte tägliche Proteinzufuhr auf 2 g pro Kilogramm Körpermasse pro Tag festgelegt. Die beiden Gruppen unterschieden sich dahingehend, dass die eine Gruppe je 25 g isoliertes Molkenprotein direkt vor und nach dem Training zuführte und die andere Gruppe dieselbe Menge 3 h vor und 3 h nach dem Training. Die verbleibende Proteinmenge im Tagesverlauf wurde über die reguläre Nahrung aufgenommen. Während der gesamten Studiendauer blieb die gewohnte Proteinaufnahme für beide Gruppen stabil.
Wie erwartet, hat die Supplementierung mit Protein zu einer Erhöhung der Kraft und Muskelmasse in beiden Gruppen geführt. Dies unabhängig vom Einnahmezeitpunkt. Es gab keinen signifikanten Unterschied zwischen den Gruppen.
Eine Mischmahlzeit, bestehend aus Kohlenhydraten, Fettsäuren und Proteinen, kann einen anabolen Effekt im Körper bis zu 6 Stunden aufrechterhalten [16]. Wird eine solche Mahlzeit 3 - 4 Stunden vor dem Training eingenommen, ist eine unmittelbare Proteinzufuhr nach dem Training weniger wichtig. Wird jedoch auf nüchternen Magen trainiert, empfiehlt sich die Proteinzufuhr unmittelbar nach dem Training, um die Proteinsynthese zu steigern, um eine positive Nettobilanz zu erzielen [17].
Wir wissen, dass die Proteinzufuhr vorteilhaft für das Krafttraining ist. Vieles deutet jedoch darauf hin, dass es kein bestimmtes Zeitfenster gibt für eine optimale Zufuhr von Proteinen. Die Evidenz hierzu ist gering. Es handelt sich dabei wohl um einen – weitverbreiteten – Mythos.
Molekular- und Muskelbiologe. Forscher an der ETH Zürich. Kraftsportler.