Die Bewegungslüge von Fitbit und Co.
Hintergrund

Die Bewegungslüge von Fitbit und Co.

Bewegung macht schlank. Falsch: Bewegung ist zwar gesund, macht dich aber nicht per se schlank. Warum ist das so?

Wie viele Schritte gehst du pro Tag? 5000 oder 10000? Ein Fitnesstracker oder eine Sportuhr am Handgelenk messen jeden einzelnen davon. Je mehr, umso besser. Denn Bewegung macht schlank. Oder nicht? Fitbit und Co. erzählen dir dazu leider nicht die ganze Wahrheit. Was sagt die Wissenschaft dazu?

Energie ist essentiell in der Biologie. Ohne sie funktioniert nichts: keine Energie, kein Leben. Du kannst das Leben als Stoffwechselprozess betrachten. Haben Organismen – der Mensch eingeschlossen – genügend Energie zur Verfügung, wird diese in die Fortpflanzung investiert. Aus evolutionärer Sicht versucht die natürliche Selektion, das Optimum aus jeder verbrauchten Kalorie herauszuholen. Daher favorisiert sie Systeme, welche Energie optimal nutzen. Deshalb lassen sich viele Schlussfolgerungen über die Entwicklung von Arten ziehen, wenn man diese Stoffwechselprozesse studiert.

Bei uns Menschen ist dies schwierig, da wir uns weit von unseren Vorfahren entfernt haben. Wir müssen unsere Nahrung nicht mehr in der Wildnis erlegen. Deshalb wenden sich Forscher den Urvölkern zu. Zum Beispiel dem Volk der Hadza in Tansania, einem der letzten Völker, die noch als Jäger und Sammler leben. Dieses Leben ist physisch anspruchsvoll. Jeden Morgen verlassen die Frauen die Dörfer, zum Teil mit ihren Kindern auf dem Rücken, und sammeln Nahrung, beispielsweise Knollen. Die Frauen verbringen Stunden damit, im felsigen Boden mit Stöcken danach zu graben. Die Männer gehen mit selber hergestellten Pfeilen und Bögen auf die Jagd und legen dabei täglich viele Kilometer zurück. Die Kinder sind die Wasserträger und bringen Wasser aus der nächstgelegenen Wasserstelle ins Dorf. Am späten Nachmittag treffen sich alle im Lager und kochen gemeinsam.

Obwohl das in unseren Ohren romantisch und entschleunigend klingen mag, ist es harte körperliche Arbeit. Jagen und Sammeln ist immer mit dem Risiko verbunden, nichts zu erlegen oder zu finden. Die Männer laufen oft mehrere Kilometer pro Tag in der Hoffnung, Beute zu machen. Sie verbrauchen dabei täglich mehrere Hundert Kalorien. Während Tiere sich auf ihre Kraft und Schnelligkeit verlassen können, müssen Menschen andere Strategien verwenden, um erfolgreich zu sein. Die kooperative Nahrungssuche hat uns so unglaublich erfolgreich gemacht, dass wir aus der Evolution als Homo Sapiens hervorgegangen sind und überlebt haben.

Forscher gehen heute immer noch davon aus, dass Urvölker, die einer derart hohen physischen Belastung ausgesetzt sind, mehr Energie verbrauchen als wir, die in Dörfern oder Städten leben. Die Meinung, dass unsere Fettleibigkeit mit der reduzierten körperlichen Aktivität zu tun hat, ist immer noch weit verbreitet. Daher haben sich der Forscher Herman Pontzer und sein Team von der Duke-Universität daran gemacht, den Stoffwechsel der Hadza mittels doppelt markiertem Wasser und Urinproben zu messen. Nach seiner Reise nach Ostafrika hat er die Urinproben von einem Labor auswerten lassen. Die Resultate der Isotopen-Massenspektrometrie haben ihn erstaunt:

Die Männer der Hadza setzten pro Tag etwa 2600 Kilokalorien um, während die Frauen rund 1900 verbrauchten. Dies war in etwa gleich viel wie der Verbrauch von Personen in den Vereinigten Staaten oder Europa. Die Daten veränderten sich auch nicht, wenn die unterschiedliche Körpergrösse, der unterschiedliche Fettanteil, das Alter oder das Geschlecht berücksichtigt wurden.

Was ist hier falsch, was verstehen wir nicht?

Das Paradigma, dass mehr physische Arbeit auch einen höheren Kalorienverbrauch zur Folge hat, scheint trotzdem unumstösslich zu sein.

Die frühesten Studien mit doppelt markiertem Wasser mit traditionellen Bauern in Guatemala, Gambia und Bolivien zeigten, dass ihr Energieumsatz mit dem von Stadtbewohnern vergleichbar war. In einer 2008 veröffentlichten Studie ging Amy Luke, eine Forscherin für öffentliche Gesundheit an der Loyola University in Chicago, noch einen Schritt weiter und verglich den Energieverbrauch und die physische Aktivität von nigerianischen Landfrauen mit denen von afroamerikanischen Frauen in Chicago. Wie die Hadza-Studie, fand auch ihre Studie keine Differenzen im täglichen Energieverbrauch zwischen den beiden Gruppen, trotz grosser Unterschiede im Aktivitätsniveau. Im Anschluss an diese Arbeit analysierte Lara Dugas, ebenfalls am Loyola College, zusammen mit anderen Forschenden die Daten von 98 Studien rund um den Globus. Sie zeigte, dass Bevölkerungen, die von den modernen Annehmlichkeiten der entwickelten Welt profitieren, einen ähnlichen Energieverbrauch haben wie Menschen in weniger entwickelten Ländern mit einem körperlich anspruchsvolleren Leben.

Ist der Energieumsatz limitiert, gibt es eine obere Grenze?

Diese Frage liess Pontzer keine Ruhe. Er mass den Stoffwechsel bei wilden und in Gefangenschaft lebenden Primaten. Das Ergebnis war wiederum, dass beide Gruppen in etwa die gleiche Anzahl an Kilokalorien pro Tag umsetzten. 2013 fanden australische Forscher bei Schafen und Kängurus, welche in Käfigen gehalten wurden oder frei herumlaufen durften, ebenfalls einen ähnlichen Energieverbrauch. Und 2015 berichtete ein chinesisches Team über vergleichbare Energieverbräuche bei Riesenpandas im Zoo und in freier Wildbahn.

In einer Studie mit 300 Teilnehmenden trugen diese während einer Woche 24 Stunden täglich Beschleunigungsmesser, vergleichbar mit Fitbit oder anderen Fitness-Trackern, während ihr Energieverbrauch mit doppelt markiertem Wasser gemessen wurde. Pontzer fand heraus, dass die physische Aktivität, die von den Beschleunigungsmessern aufgezeichnet wurde, nur schwach mit dem Stoffwechsel zusammenhing. Im Durchschnitt verbrauchten Couch Potatoes jeden Tag etwa 200 Kalorien weniger als Menschen, die mässig aktiv waren. Mässig aktiv heisst, dass diese Personen zum Beispiel bewusst die Treppe statt den Lift wählten. Eine verblüffende Beobachtung war, dass der Energieverbrauch bei Personen mit einer höheren physischen Aktivität auf einem gewissen Niveau stagnierte. Personen mit dem körperlich intensivsten Alltag setzten täglich die gleiche Anzahl Kalorien um wie Menschen mit einem mässig aktiven Leben. Das gleiche Phänomen, das den Energieverbrauch der Hadza mit anderen Bevölkerungsgruppen gleichsetzt, war auch bei den Teilnehmern dieser Studie zu beobachten.

Wie kann das sein? Wie können die Hadza auf der Jagd Hunderte Kalorien verbrauchen und dennoch in etwa gleich viel pro Tag umsetzen wie eine sitzend arbeitende Durchschnittsperson in den Vereinigten Staaten oder Europa? Kann es sein, dass der Körper irgendwo spart? Kann es sein, dass er Kalorien spart, indem er bei anderen Prozessen weniger verbraucht, die auch Energie kosten, damit uns mehr Energie für physische Aktivität zur Verfügung steht? Wir wissen, dass Bewegung entzündungshemmend wirkt und den Spiegel des Fortpflanzungshormons Östrogens senkt. Bei Labormäusen hat eine erhöhte physische Aktivität keinen Einfluss auf den täglichen Energieverbrauch. Jedoch reduziert die erhöhte physische Aktivität die Anzahl Eisprünge drastisch und die Wundheilung verläuft wesentlich langsamer. Laktierende Labormäuse verringern die Milchproduktion, wenn sie hoher körperlicher Aktivität ausgesetzt sind und können unter Extrembedingungen ihre eigenen Nachkommen kannibalisieren. Setzt man Zebrafinken hoher Aktivität aus, reproduzieren sie später und erhöhen den Zeitraum zwischen den Reproduktionszyklen, was auf eine verringerte Stoffwechselaktivität im reproduktiven System schliessen lässt.

Diese Evidenz deutet darauf hin, dass Fettleibigkeit eher eine Folge unserer Völlerei ist und wenig mit unserem Bewegungsmuster zu tun hat. Wenn sich der tägliche Energieverbrauch also im Verlaufe der Menschheitsgeschichte kaum verändert hat, dürften die verzehrten Kalorien daran schuld sein. Dies erklärt ebenfalls, warum man mit Sport nicht schlank wird. Du solltest jetzt aber keinesfalls daraus schliessen, dass du dem Sport fernbleiben und nur auf deine Ernährung achten solltest. Sport hat einen unglaublich hohen Stellenwert für unseren Körper und ist reine Medizin. Wir steigern die Leistungsfähigkeit unseres kardiovaskulären Systems, Gehirnfunktionen werden verbessert und wir altern gesünder und mobiler.

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Dennoch stellen sich Fragen, die noch nicht beantwortet sind. Wenn der tägliche Energieverbrauch praktisch stabil ist, wie konnte sich der Mensch dann so radikal anders entwickeln als seine Verwandten, die Affen? Nichts im Leben ist umsonst. Die Ressourcen sind begrenzt und mehr in ein Merkmal zu investieren, bedeutet zwangsläufig, weniger in ein anderes zu investieren. Es ist kein Zufall, dass Kaninchen sich enorm vermehren, aber jung sterben. Sie stecken alle Energie in die Nachkommen.

Wir setzen uns über dieses evolutionäre Grundprinzip der Sparsamkeit hinweg. Unsere Gehirne sind so gross, dass du, während du diesen Artikel liest, den Sauerstoff von jedem vierten Atemzug brauchst, um die Arbeit deines Gehirns zu gewährleisten. Dennoch haben Menschen grössere Babys, pflanzen sich häufiger fort, leben länger und sind körperlich aktiver als alle Menschenaffen.

Mensch = grösserer Kalorienverbrauch

Der Mensch ist anderen Affen genetisch und biologisch so ähnlich, dass Forscher lange angenommen haben, dass auch unser Stoffwechsel ähnlich ist. Aber wenn der Energieverbrauch so eingeschränkt ist, wie die Hadza-Studie und andere vermuten lassen, wie könnte dann ein unflexibler, affenähnlicher Stoffwechsel all die Kalorien verarbeiten, die nötig sind, um unsere kostspieligen menschlichen Eigenschaften zu unterstützen?

In ihrer Primatenstudie haben Pontzer und Kollegen herausgefunden, dass Affen nur halb so viele Kalorien pro Tag umsetzen wie andere Säugetiere. Die reduzierten Stoffwechselraten der Primaten stimmten mit ihren langsamen Wachstums- und Reproduktionsraten überein. Vielleicht waren umgekehrt die schnellere Fortpflanzung und andere Eigenschaften des Menschen mit der Evolution einer erhöhten Stoffwechselrate verbunden. Was es nun brauchte, um diese Idee zu testen, waren einige Schimpansen, Bonobos, Orang-Utans und Silberrücken-Gorillas. Sie mussten dazu gebracht werden, vorsichtig Dosen doppelt markierten Wassers zu trinken, ohne zu kleckern und anschliessend ein paar Urinproben abzugeben. In einer wissenschaftlichen Meisterleistung hat Pontzer mit den Kollegen Steve Ross und Mary Brown, beide vom Lincoln Park Zoo in Chicago, mit Pflegern und Tierärzten aus mehr als einem Dutzend Zoos in den USA zusammengearbeitet, um das zu bewerkstelligen.

Es dauerte ein paar Jahre, aber sie sammelten genug Daten über den Energieverbrauch von Menschenaffen, um einen soliden Vergleich mit dem Menschen anzustellen. Tatsächlich verbraucht der Mensch mehr Kalorien pro Tag als jeder unserer grossen Affenverwandten. Selbst wenn man die Auswirkungen der Körpergrösse, des Aktivitätsniveaus und anderer Faktoren berücksichtigt, verbraucht der Mensch etwa 400 Kilokalorien mehr pro Tag als Schimpansen und Bonobos. Die Unterschiede zu Gorillas und Orang-Utans sind noch grösser. Diese zusätzlichen Kalorien stellen die Arbeit dar, die unser Körper leistet, um grössere Gehirne zu unterstützen, mehr Babys zu produzieren und unseren Körper in Stand zu halten, damit wir länger leben. Es ist nicht einfach so, dass wir mehr essen als andere Affen – obwohl wir das auch tun. Wie wir nur zu gut wissen, führt die Anhäufung von zusätzlichen Kalorien in unserem Körper, der nicht dafür ausgerüstet ist, sie zu nutzen, nur zu Fettleibigkeit. Unser Körper hat sich bis auf Zellebene so entwickelt, dass er die Energie schneller umsetzen und mehr leisten kann als unsere Affenverwandten. Die menschliche Evolution verlief nicht ganz ohne Kompromisse. Unser Verdauungstrakt ist kleiner und weniger kostspielig als der von Affen, die einen grossen, energetisch teuren Darm benötigen, um ihre faserige, pflanzliche Nahrung zu verdauen. Aber die entscheidenden Veränderungen, die uns zum Menschen machen, wurden durch eine evolutionäre Entwicklung unseres Stoffwechsels angetrieben.

Wir können also schlussfolgern: Der Gesamtenergieverbrauch scheint beschränkt zu sein und daher erhöht sich der Energieverbrauch durch zusätzliche physische Aktivität nicht linear. Es scheint vielmehr so zu sein, dass der Körper bei höheren Belastungen bei anderen Körperfunktionen Energie spart.

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Molekular- und Muskelbiologe. Forscher an der ETH Zürich. Kraftsportler.


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