
Hintergrund
Und es hat Boom gemacht: Cargo-Bikes mischen den Verkehr auf
von Michael Restin
Der Langsamverkehr soll nachhaltiger, sicherer und einfacher geregelt werden. An diesen Zielen orientiert sich der Bundesrat. Ein Leitfaden der Denkfabrik «World Resources Institute» zeigt, wie das gelingen kann.
Der Platz ist begrenzt und das Gedränge gross. Entsprechend wichtig ist die Frage, wie Autos, Velos und E-Gefährte aller Art in Ballungsgebieten künftig unterwegs sein dürfen. Im aktuellen Bericht zu den Verkehrsflächen für den Langsamverkehr hält der Bundesrat grundsätzlich fest, wie diese Zukunft in der Schweiz aussehen soll. Und er schlägt neue Regelungen vor, die elektrischen Kleinfahrzeugen mehr Platz einräumen. Auf Veloverkehrsflächen sollen künftig neben E-Bikes vermehrt auch andere Elektrofahrzeuge unterwegs sein, deren Geschwindigkeit auf 25 km/h begrenzt ist. Schnellere E-Bikes bis 45 km/h dürfen sowohl Velo-Spuren als auch die Strasse benutzen und sollen von Fahrverboten für Mofas befreit werden. Das Trottoir dagegen wird weiterhin den Fussgänger:innen vorbehalten bleiben.
Mehr Cargo-Bikes und Kleintransporter, E-Bikes mit Anhänger und schnelle S-Pedelecs bedeuten auch, dass der zusätzliche Raum für sie irgendwo herkommen muss. Eine Option ist, Busstreifen generell für den Radverkehr zu öffnen. Eine andere, die Fahrstreifen abhängig von der Tageszeit für unterschiedliche Verkehrsteilnehmer freizugeben. Pro Velo begrüsst die Vorschläge grundsätzlich, merkt in einer Medienmitteilung aber an, dass die Wege genügend breit sein müssten. Flexible Nutzung alleine wird nicht überall reichen und die Fläche nach und nach neu verteilt werden. Schliesslich stellt das nationale Veloweggesetz ein zusammenhängendes Netz von sicheren Routen in Aussicht.
Wie es gelingen kann, in Ballungsgebieten zügig ein funktionierendes Verkehrsnetz für Velos und Co. aufzubauen, hat die Washingtoner Denkfabrik «World Resources Institute» als Reaktion auf die Pandemie untersucht. Daraus ist der Leitfaden «Safe Bicycle Lane Design Principles» entstanden. Er soll Städten dabei helfen, gute und schnelle Entscheidungen zu treffen, um Velorouten attraktiv zu machen. Dafür müssen sie sicher und direkt sein. Wobei Sicherheit nicht nur an Unfallzahlen gemessen werden sollte, wie das im Leitfaden genannte Beispiel Oslo verdeutlicht. Die norwegische Hauptstadt hat sich 2015 eine neue Strategie überlegt. Und diese berücksichtigt auch die wahrgenommene Sicherheit.
Niedrige Unfallzahlen nützen wenig, wenn ältere Menschen, unsichere Personen oder Kinder das Gefühl haben, dass Velostrecken für sie nicht befahrbar sind und sie sich in einem aggressiven Umfeld bewegen. In Oslo ist es gelungen, Vertrauen zu schaffen und das Feedback der Bevölkerung aufzunehmen, indem vorläufige Velowege eingerichtet wurden, die entsprechend angepasst werden konnten. Lange bevor durch die Pandemie Pop-up-Velowege aufgekommen sind, war die Erkenntnis: Flexibilität ist viel wert. Jahrelange Planungsverfahren können an den Bedürfnissen vorbeigehen. «Setze Normen und bleibe flexibel», ist ein Learning der skandinavischen Planer:innen. Kompromisse sind nötig, aber sie dürfen nicht zu Lasten der Sicherheit gehen.
Bei der Raumaufteilung fand in Oslo deshalb ein Umdenken statt: Wo früher vom Randstein gemessen 1,5 Meter für Velos eingeplant wurden, stehen sie nun im Zentrum der Überlegungen. Dafür geht es den Autos an die Spurbreite. Ihnen bleibt, von der Strassenmitte aus gemessen, das Minimum: 2,75 bis 3,25 Meter. Der Rest wird den Velowegen zugeschlagen. Entscheidend ist, dass die Velowege mindestens 2 Meter breit sind. Sollte es trotzdem stellenweise schmaler werden, helfen Geschwindigkeitsbegrenzungen und Bodenschwellen, um den Autoverkehr auszubremsen. Hauptsache, der Veloweg hört nicht einfach auf.
Es ist ein pragmatischer Ansatz, der möglich macht, was möglich ist, und unter den gegebenen Bedingungen die Sicherheit erhöhen soll. So entsteht ein zusammenhängendes Netz, das genutzt wird und dessen Nutzen gut kommuniziert wird. Weil auf Erfahrungen reagiert wird und Konflikte entschärft werden. Denn was im Konzept logisch erscheint, wird längst nicht von allen als sinnvoll und richtig erachtet. Die Bevölkerung mitzunehmen ist ein zentraler Punkt, um Änderungen durchzusetzen. Neben diesem weichen Faktor und dem Beispiel Oslo enthält der Leitfaden «Safe Bicycle Lane Design Principles» aber auch allerhand konkrete Zahlen. Zum Beispiel zur Frage, wie viel Platz Velospuren brauchen.
Bestehende Velowege sind in Ballungszentren meistens schmal. Was heute die Regel ist, soll irgendwann die Ausnahme sein. Aber es wird wie in Oslo Ausnahmen brauchen, um ein zusammenhängendes Netz zu schaffen. So könnten die Spuren künftig gestaltet sein.
Wo mehr Platz für Velos und Co. geschaffen wird, bleibt weniger für die Autos übrig. Und eine engere Spur beeinflusst das Tempo: Ein Meter weniger für Autos kann die tatsächlich gefahrene Geschwindigkeit um 15 km/h senken.
Ein willkommener Nebeneffekt, denn die Geschwindigkeit ist der nächste Punkt, an dem Städte ansetzen können und müssen. Selbst eine Metropole wie Paris drosselt das Tempo der Stadt flächendeckend auf 30 km/h, um Lärm und Emissionen zu reduzieren und die Sicherheit zu erhöhen. Doch neben breiten Wegen und angepasster Geschwindigkeit gehört noch mehr dazu, damit die Infrastruktur nicht zur Velo-Falle wird. Zum Beispiel eine konsequente Abgrenzung.
Ab Tempo 40 sollten Velowege auch physisch vom übrigen Verkehr getrennt sein. Durch temporäre Barrieren oder Pylonen, später vielleicht durch Pflanzen oder andere Lösungen, die vor riskanten Überholmanövern, rangierenden Fahrzeugen und auffliegenden Autotüren schützen. Wenn neben einer Abtrennung noch Parkbuchten platziert werden, sind Velofahrende vom fliessenden Verkehr weit entfernt und bestens geschützt. Bis sie sich einer Kreuzung nähern. Dann gilt es, den Veloweg wieder ins Blickfeld zu rücken und vor abbiegenden Fahrzeugen zu bewahren. Mindestens durch eindeutige Signale und genug Raum, um an Ampeln vor dem Autoverkehr warten zu können.
Zusätzlich greifen beispielsweise in Kopenhagen technische Lösungen, um die Grünphase für Velofahrende zu verlängern, wenn das Verkehrsaufkommen hoch ist. So hat der Zweiradverkehr Vorfahrt und wird noch attraktiver, als er ohnehin schon ist. Das ist schön, kann aber neue Probleme und steigende Unfallzahlen mit sich bringen: In den Niederlanden gibt es bereits einen Modellversuch, um E-Bikes bei gefährlichen Bedingungen automatisch auszubremsen.
Wo ein Wille ist, wird irgendwann ein adäquater Veloweg sein. Damit er genutzt und akzeptiert wird, sind Kompromisse nötig – nur nicht bei der Sicherheit. Ansonsten bleibt die Erkenntnis, dass Pläne irgendwann einfach umgesetzt und anhand der Erfahrungen angepasst werden müssen. Dafür ist es an der Zeit. Langsam, aber sicher.
Einfacher Schreiber, zweifacher Papi. Ist gerne in Bewegung, hangelt sich durch den Familienalltag, jongliert mit mehreren Bällen und lässt ab und zu etwas fallen. Einen Ball. Oder eine Bemerkung. Oder beides.