
Hintergrund
Gut’ Bier will Weile haben!
von Daniel Frey
Brockenhäuser sind längst nicht mehr nur wilde Sammelsurien. Viele haben sich spezialisiert. Mittlerweile gibt es sogar welche für Pflanzen und Gartenartikel. In Embrach versteckt sich ein ganz besonderes.
Fernab jedes Blicks. Dort wurden Menschen mit psychischer Beeinträchtigung früher oft untergebracht. Auch das ehemalige Psychiatriezentrum Hard liegt am äussersten Rand von Embrach im Kanton Zürich, abgeschottet hinter einem Erdwall. Nur wenige wissen, dass sich dort eine grüne Schatzkammer verbirgt: das Gartenbrockenhaus der Institution VESO.
«Ich wünschte mir oft, wir wären sichtbarer», sagt Christian Dütschler. Der gelernte Obergärtner und Arbeitsagoge leitet den Gartenbau und das Brocki. 18 Personen mit psychischen Beeinträchtigungen arbeiten bei ihm. Es gibt klare Regeln – niemand darf etwa mit akuten Drogenproblemen erscheinen – und auch Probezeiten und Kündigungsfristen, wie im ersten Arbeitsmarkt. Und doch ist es nicht dasselbe.
Es klackt und schabt. In der Warenannahme schichtet eine Frau mit einem farbigen Haarband Pflanzenbehälter aufeinander. «Die meisten haben nur leichte Spuren vom Wetter oder was sie sonst erlebt haben», erklärt mir Karin. Sie arbeitet seit 15 Jahren im Gartenbrocki. Wie aus dem Effeff teilt sie mir für jede Topfgrösse den passenden Untertopf mit.
Hinter ihr setzt eine kurzhaarige Frau eine Sukkulente in frische Erde. Christian Dütschler zeigt auf ein Pflänzchen vor ihr und meint verdutzt: «Das hat ja bereits einen Preis.» «Ja, hab ich längst beschriftet», antwortet sie. Bisher habe ich nicht den Eindruck, dass es hier anders als in einem herkömmlichen Brocki abläuft. Nur manche Gesichter wirken etwas ernster als sonst im Verkauf – dafür unverfälschter. Ich kann nur erahnen: Diese Menschen haben viel erlebt.
Christian Dütschler führt mich vorbei an Gartenbeleuchtung, Tischen, Werkzeugen und Rasenmähern. Etwa 20 000 gebrauchte Gartenartikel sowie Innen- und Aussenpflanzen verkauft das Brocki jährlich. Ungefähr 90 Prozent kommen als Spende, zum Beispiel von Privatpersonen, Hausräumungen oder ausgemusterten Innenbegrünungen. Vereinzelte saisonale Pflanzen, Dünger und Erde kauft das Brocki dazu.
Wir bleiben vor zwei fast identischen Töpfen stehen. Einer ist mit einem Franken und einer mit fünf Franken angeschrieben. Nicht immer seien Preisunterschiede leicht nachzuvollziehen, sagt Christian Dütschler. «Unsere Mitarbeitenden setzen die Preise selbst fest. Wir kontrollieren sie nur und berichtigen sie bei Bedarf. Das stärkt ihr Vertrauen in die eigene Urteilsfähigkeit. Wie viel ein Produkt letztlich wert ist, bleibt jedoch eine Ermessensfrage. Jede Person sieht das anders. Deshalb sind wir froh, wenn irritierte Kunden auf uns zukommen.»
Nicht alle tun das. Zumindest nicht direkt. Christian Dütschler erzählt, dass erst gerade ein Kunde eine negative Google-Rezension verfasst habe, weil er einen Preis für übertrieben hielt. «Schade, dass er nicht unsere Mitarbeitenden persönlich angesprochen hat. Sie hätten ihm erklärt, wie er zustande gekommen ist.» Ich schüttle den Kopf. Verurteilen scheint einfacher als aufeinander zuzugehen. Das gilt auch für psychische Erkrankungen.
An der Kasse bimmelt ein Kunde mit der Klingel. Er ist bereits der dritte innerhalb der letzten zehn Minuten. Aktuell ist Hochsaison im Gartenbrocki. Gartenmöbel, grosse Töpfe und Aussenpflanzen wie Agaven sind besonders gefragt. Christian Dütschler schaut sich um, aber niemand ist zu sehen. Er ruft ins Lager. «Ich komme, ich komme, ich hab’s gehört», antwortet eine feine Stimme. Eine zierliche, junge Frau erscheint und bedient die Kasse. Den Kunden hat es nicht gekümmert, etwas zu warten. Er lächelt. Auch die Mundwinkel der jungen Frau ziehen sich leicht nach oben.
«Für viele Mitarbeitende ist es nicht einfach, jeden Tag zu erscheinen. Erst recht, wenn es ein schlechter ist. Da brauchen sie viel Kraft, um sich aufzuraffen», sagt Christian Dütschler. Oft ist der erste Schritt aus dem Haus der schwerste. Im Gartenbrocki angekommen sind da bekannte Gesichter, eine Routine, blühende Pflanzen. Die Handarbeit mit Erde stärkt erwiesenermassen die mentale Gesundheit. Christian Dütschler bestätigt das. «Wenn sich unsere Mitarbeitenden an der frischen Luft bewegen, spüren sie sich und ihren Körper. Das erdet.»
Hinter uns kümmert sich ein junger Mann, Dennis, liebevoll um eine Palme. Er begutachtet aufmerksam die Blätter, schneidet hier und da vorsichtig etwas ab, giesst nach. Christian Dütschler meint zu mir: «Viele unserer Mitarbeitenden haben ein feines Gespür. Sie merken sofort, wie es Menschen und Pflanzen geht.» Das glaube ich sofort. Bei Dennis gedeiht die Palme sicher besonders gut, denke ich mir.
Die Hingabe der Mitarbeitenden trägt durchaus immer wieder Früchte. Wenn eine Pflanze neu austreibt oder erblüht, sei das ein besonderer Moment, sagt Christian Dütschler. «Es zeigt unseren Leuten, was sie erschaffen können. Und wenn dann ein Kunde oder eine Kundin die Pflanze kauft, vermittelt das ein Gefühl von: ‹Meine Arbeit wird wertgeschätzt. Ich bin ein Teil der Gesellschaft›.»
Trotzdem ist der Weg zurück in den ersten Arbeitsmarkt steinig. Früher hätten Arbeitgeber häufiger Stellen für Personen mit psychischen Beeinträchtigungen geschaffen, sagt Christian Dütschler. «Viele sind mittlerweile wegrationalisiert worden.» Stattdessen sind Personen nun vielfach im zweiten Arbeitsmarkt angestellt. Das sei wichtig, sagt der Brocki-Leiter. Aber: «Der Druck ist einiges geringer als im ersten Arbeitsmarkt. Wer zurückkehren will, hat es schwer, ihm standzuhalten.»
Christian Dütschler hält es deshalb für sinnvoll, Personen im zweiten Arbeitsmarkt vorzubereiten und sie anschliessend wieder schrittweise in den ersten Arbeitsmarkt zu integrieren. Dafür hat der VESO Integrationsarbeitsplätze bei Partnerbetrieben. «Es ist wie bei unseren Pflanzen im Brocki», sagt er. «Sie tragen Spuren ihres Wegs. Doch in der richtigen Umgebung können sie wieder erblühen und sichtbar werden.»
Um die Privatsphäre der Mitarbeitenden zu wahren, verwende ich nur ihre Vornamen oder anonymisierte Bezeichnungen.
Ich mag alles, was vier Beine oder Wurzeln hat. Zwischen Buchseiten blicke ich in menschliche Abgründe – und an Berge äusserst ungern: Die verdecken nur die Aussicht aufs Meer. Frische Luft gibt's auch auf Leuchttürmen.