
Hintergrund
Schlagermove: Unser Selbstversuch im Partychaos von St. Pauli
von Stefanie Lechthaler
Inmitten von Hamburgs Grossstadtlärm wartet das Unerwartete: der grösste Japanische Garten Europas. Die Expertin und «Kameliendame» Sabine Rusch zeigt, wie Steine, Wasser und Pflanzen eine eigene Sprache sprechen – und warum weniger mehr ist.
Feucht, fröhlich, ausgelassen: Unsere Teamreise nach Hamburg war vieles – ausser ruhig. Insbesondere für die von uns, die in den Genuss (oder war's eher ein Verdruss?) des Schlagermoves kamen:
Im Trubel der 1,8-Millionenstadt sehnte ich mich als Pflanzen-Redakteurin nach entspannter Idylle. Danach musste ich nicht lange suchen. Hamburg, eine der weltweit grünsten Millionenstädte, besitzt den grössten Japanischen Garten Europas, bestehend aus drei Teilen.
Den jüngsten Teil besuche ich im Japanischen Landschaftsgarten Planten un Blomen. Und zwar mit der Expertin, wenn es um Japanische Gärten geht: Sabine Rusch. Die 77-jährige Gartenbau-Ingenieurin gibt seit über zwanzig Jahren Führungen. Als sie noch für den Botanischen Garten arbeitete, lernte sie den Landschaftsarchitekten Yoshikuni Araki aus Hamburgs Partnerstadt Osaka kennen. Er entwarf und baute die drei Japanischen Gärten 1978, 1988 und 1991.
«Es wird Ihnen bestimmt gefallen», sagt Sabine Rusch, als wir uns begrüssen und fordert mich gleich auf, mitzukommen. Wir schlängeln uns durch farbig geblümte Wege und an Gewächshäusern vorbei. Hinter uns verblassen das Stimmengewirr, das Brummen der Motoren – und schliesslich, als wir vor dem Japanischen Garten stehen, die Farben.
Ich bin irritiert – und Sabine Rusch sieht es mir an. «Sie haben mehr Farben erwartet», sagt sie und ich nicke. «Im Japangarten sind die Pflanzen bewusst so abgestimmt: Im Sommer überwiegen die Grüntöne, im Herbst färben sich Ahorn und Ginko gelb und nach dem Winter erblühen Kirschblüten, Magnolien und Azaleen rosa und weiss. Das gibt ein harmonisches, einheitliches Bild.» Nun sehe ich es auch: Alles passt zusammen. Doch das liegt nicht nur an den Farben.
Es ist das Gesamtbild aus Steinen, Wasser und Pflanzen: eine Miniaturabbildung der Welt. Sie ist nicht makellos, aber sehr viel geordneter als die chaotische Realität dahinter: der Fernsehturm, Wohnblöcke, Wolkenkratzer, die kreuz und quer zwischen den Bäumen emporragen. Dass der Hintergrund Teil des eigenen Gartens sei, nenne man im Japanischen «Shakkei», geborgte Landschaft, sagt Sabine Rusch. «Es soll den Garten optisch vergrössern und den Blick erweitern.»
Plötzlich ragt ein Kopf aus dem Grün über uns. Eine Gärtnerin stutzt eine Schwarzkiefer zurecht. Auch diese soll, wie die Steine und Büsche, rund und harmonisch aussehen. Sabine Rusch strahlt über das ganze Gesicht. «Hier wird so viel Liebe und Ausdauer hineingesteckt. Stellen Sie sich vor: All diese Kiefern müssen mehrmals jährlich geschnitten werden. Ein einziger Baum braucht bis zu zwei Stunden Pflege.» Die Mühe könnte sich lohnen, denn die Schwarzkiefer steht sinnbildlich für ein langes Leben.
Lange und gesund leben möchten auch viele Gäste des Japangartens. Am Eingang des Teegartens steht ein Schöpfbecken. Hier können sie sich den Stress wegwaschen und die Seele reinigen, bevor sie im Teehaus dahinter eine Teezeremonie besuchen. In den Genuss bin ich in der Schweiz auch schon gekommen.
Als ich zu einem Baum hochschaue, der sich regelrecht zu uns herunterbeugt, erinnere ich mich, wie ich mich in der Zeremonie vor der Teetasse verneigt hatte. Sabine Rusch ist mein Blick nicht entgangen. Sie erklärt mir, dass es sich um einen Blauregen handelt, der häufig zur Geburt eines Mädchens verschenkt werde. Ausserdem steht er sinnbildlich für Demut. Ja, das passt, denke ich. Demut habe ich oft, wenn ich die Natur betrachte.
Der perfekte Zeitpunkt, einen weiteren Gipfelmoment zu erleben: auf dem «Fujiyama». Der höchste Berg Japans wurde auf einem kleinen Hügel nachgestellt. Empor steigen wir ihn auf einem verschlungenen Pfad, der von einem Bächlein, dem «Fluss des Lebens», und Laternen gesäumt ist. «Typisch Japan», sage ich. «Eigentlich nicht, eigentlich typisch China», meint Sabine Rusch. Sie erzählt, dass die Chinagärten im 6. Jahrhundert mit der offiziellen Einführung des Buddhismus nach Japan kamen. Die Japaner entwickelten daraus ihre eigene Gartentradition. Die ist optisch reduzierter, dafür mit umso mehr Bedeutung gefüllt.
Sabine Rusch zeigt auf den Boden. In einem Chinagarten wäre dieser mit Mosaiken bestückt, hier besteht er aus schlichten Steinen. Auch die Brücke, die wir überqueren, ist aus Granitstein statt aus farbig verziertem Holz gefertigt. Immer wieder begegnen wir kleinen offenen Rasenflächen. «Ma» steht im Japanischen für bewusst gestaltete Leere. «Kanso» heisst, sich aufs Wesentliche zu reduzieren.
Während ich in Gedanken den Bedeutungen nachhänge, bemerke ich gar nicht, dass wir auf dem Fuji-Gipfel angekommen sind. Hier hat Landschaftsarchitekt Yoshikuni Araki einen für Japangärten einzigartigen Bachverlauf erstellt: Auf der einen Seite fliesst Wasser in den «Pazifik», auf der anderen Seite in das «Japanische Meer». «Seine Liebe fürs Detail ist bemerkenswert», sagt Sabine Rusch.
Auf dem Weg zurück kommen wir an einem Kamelienstrauch vorbei. Er trägt zwar keine Blüten, aber Sabine Ruschs Augen weiten sich: es ist ihre absolute Lieblingspflanze. Für sie reiste die Gartenbau-Ingenieurin bereits nach China, um die älteste 600-jährige Kamelie der Welt zu besuchen. Und sie schreibt an einem Buch über Geschichten der Kamelien in Norddeutschland. Kein Wunder, nennen sie die deutschen Medien doch «Kameliendame», wie der Roman von Alexandre Dumas.
Weil sie die Pflanze so vergöttert, hat Sabine Rusch schon in ganz Hamburg Kamelien pflanzen lassen. «Am Strassenrand, in Rabatten, überall. Kamelien sind winterhart und nun ein Teil der Stadt», sagt sie schelmisch schmunzelnd. Als ich noch ein letztes Mal zu den Wolkenkratzern über den Schwarzkiefern blicke, erkenne ich auf einmal Ähnlichkeiten, die mir zuvor nicht aufgefallen sind. Ich denke nochmals an «Shakkei», die geborgte Landschaft, und habe das Gefühl, Stadt und Garten verbinden sich zu einem harmonischen Ganzen. Es ist, wie die Japaner sagen: Mein Blick hat sich erweitert.
Ich mag alles, was vier Beine oder Wurzeln hat. Zwischen Buchseiten blicke ich in menschliche Abgründe – und an Berge äusserst ungern: Die verdecken nur die Aussicht aufs Meer. Frische Luft gibt's auch auf Leuchttürmen.