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Mehr Muskeln durch die richtige Brille?
von Michael Restin
In eine virtuelle Welt abtauchen und dabei ganz real die Muskeln stärken, das hört sich gut an. Ob «Exergaming» mit der Flugliege «Icaros» wirklich mehr als nur Spass bringt, wurde im Rahmen einer Studie an der Deutschen Sporthochschule Köln untersucht.
Es sieht affig aus. Du klemmst dich mit VR-Brille auf dem Kopf bäuchlings in ein Gerät, das den Charme eines Zahnarztstuhls ausstrahlt. Durch die Brille betrachtet, sieht es grossartig aus. Du fliegst durch die Lüfte, gleitest durchs Wasser oder rast eine Rennstrecke entlang. Die Aussen- und Innenperspektive könnte beim Exergaming kaum gegensätzlicher sein. Die Wortschöpfung aus «exercise» und «gaming» steht für Geräte wie den «Icaros» oben im Bild. Sie vereinen Training und Gaming. Statt im Fitnessstudio beim Gewichte wuchten die Wand anzustarren, bist du in deinem eigenen Film und ignorierst im Idealfall, dass die angespannten Muskeln zu zittern beginnen.
Dass sich unser Gehirn mit virtuellen Bildern leicht austricksen lässt, legt eine Studie nahe: Obwohl die Probanden durch ihre VR-Brille nur die simple virtuelle Darstellung eines Armes und des Raums sahen, in dem sie real sassen, hielten sie eine statische Kraftübung länger durch und spürten dabei weniger Schmerz als Probanden ohne VR-Brille.
Forscher des Instituts für Bewegungstherapie, bewegungsorientierte Prävention und Rehabilitation der Deutschen Sporthochschule Köln haben nun das Training mit dem «Icaros» unter die Lupe genommen. In dem Gerät führst du einen Unterarmstütz aus und navigierst durch Gewichtsverlagerung. Neben der Rumpfstabilität trainierst du damit nach Angaben des Herstellers verschiedene Muskelgruppen des Oberkörpers. Auch Reflexe, Gleichgewichtssinn und Koordination sollen profitieren. Wenn dir das zu theoretisch ist, kannst du den «Icaros» zum Beispiel in der Media World im Verkehrshaus Luzern selbst ausprobieren.
Für die Wissenschaftler ist das Gerät interessant, weil die Motivation in der Prävention und Rehabilitation ein ganz wesentlicher Faktor ist und der spielerische Ansatz sie steigern kann. Ziel der Studie war es, herauszufinden, welche Wirkung das VR-basierte Trainingssystem auf das Herz-Kreislauf-System der Probanden hat und welches Potenzial für ein effektives Kraftausdauertraining besteht. Neben messbaren Daten wie Herzfrequenz, Muskelaktivität und Gerätebewegung wurden auch die subjektiven Eindrücke der Probeflieger abgefragt.
Die Nacken-, Schulter- und Rückenmuskulatur der Probanden wurde bei ihren zwei je fünfminütigen «Flügen» aktiviert, was dafür spricht, dass ein Rumpfkrafttraining mit dem Icaros möglich ist. Bei den übrigen Muskelgruppen konnte kein trainingswirksamer Reiz festgestellt werden. Auch der Puls der Probanden blieb so niedrig, dass das Herz-Kreislauf-System wohl kaum davon profitiert. Obwohl die Studienteilnehmer die Übung als anstrengend empfanden, bewerteten sie die Erfahrung grösstenteils als sehr angenehm.
Das Prinzip fasziniert und weckt bei den Wissenschaftlern Hoffnungen, Menschen zu motivieren, die mit klassischen Sportangeboten nicht vom Sofa zu locken sind. Es gibt aber auch Verbesserungsvorschläge: «Zukünftige Ganzkörperkonzepte sollten sich auf die Steigerung der dynamischen Muskelaktivierung konzentrieren», wird Studienleiter Dr. Boris Feodoroff in der Pressemitteilung zitiert. Bislang ist zwar jede Menge Bewegung im (virtuellen) Spiel, die reale Muskelarbeit aber vor allem statisch.
Trotzdem hat das Teil aus Gamer-Perspektive auch so schon genug Potenzial, um für Herzrasen zu sorgen. Die Multiplayer-Plattform «Icarace» ist so etwas wie der wahr gewordene Traum aller, die schon 1993 vom Flug-Rennspiel «Starwing» auf dem Super Nintendo fasziniert waren. So wie im Video unten sieht ein ähnlicher Ansatz ein Vierteljahrhundert später aus. Die Zahl der Spieler hat sich im vergangenen Jahr verfünffacht, Red Bull ist eingestiegen und am 11. Oktober steigt in München die zweite Weltmeisterschaft.
Während Exergaming-Gadgets früher eher aus der Videospiel-Ecke kamen, hat nun die Fitnessbranche übernommen. An der Sportmesse ISPO sind mir neben dem Icaros unter anderem Rollentrainer mit Gaming-Funktion und ein Rudergerät, das dich per Display auf die Themse beamt, begegnet. Mehr Spass haben wollen wir schliesslich alle. Mein virtuelles Highlight ist bislang «Birdly», der zwar nicht als Sportgerät konzipiert ist, aber ebenfalls auf allen Ebenen bewegt. Darauf schlägst du vogelgleich mit den Flügeln, fliegst durch eine prähistorische Welt und vergisst völlig, dass du eigentlich wie eine Flunder auf dem Seziertisch liegst.
Alles besser also in der schönen neuen Exergaming-Welt? Fliegen wir lächelnd auf ein neues Fitness-Level? Nicht unbedingt. Das wunderschöne Wort Cyberkrankheitssymptome schmerzt schon beim Lesen, ist aber ein reales Problem. Mit dem Spass war es bei den oben erwähnten Studienteilnehmern nämlich so eine Sache: Jeder fünfte Proband musste seinen Flug wegen Übelkeit abbrechen. Manchmal sind Innovationen auch einfach zum Kotzen.
Einfacher Schreiber, zweifacher Papi. Ist gerne in Bewegung, hangelt sich durch den Familienalltag, jongliert mit mehreren Bällen und lässt ab und zu etwas fallen. Einen Ball. Oder eine Bemerkung. Oder beides.