Hintergrund

Eine Nacht im Zelt, zwei Zähne weniger

Berlin ist ein raues Pflaster. Dass eine Nacht im Zelt mit dem Verlust zweier Schneidezähne endet, hätte ich trotzdem nicht gedacht. Die Geschichte eines kleinen Indoor-Abenteuers in der grossen Stadt.

Es durfte mich also nicht wundern, dass mein Besucher aus Berlin sich nachts klaglos auf dem Balkon zusammenrollte und selbst im stärksten Zürcher Sommergewitter dort ausharrte. Ohne Zelt. Als wir ein paar Wochen später drei Stunden vor Ankunft unseren sehr spontanen Gegenbesuch in der deutschen Hauptstadt ankündigen, habe ich zum Glück eines im Gepäck.

Der Trend geht zum Tent

Statt zu meckern, weil ich zu nachtschlafender Zeit mit viel zu langen Zeltstangen auf dem Balkon randaliere, packt er mit an und bringt mir schonend bei, dass ich wohl drinnen zelten muss. Oder, wie der Berliner sagt: «Komm‘ se rin, könn‘ se rauskieken!» Auch gut. Aus einem Zelt in der Wohnung gentrifiziert uns so schnell niemand weg.

Urlaub in den Apsiden

In der Beschreibung des giftgrünen Kuppelzelts Salewa Denali stehen einige Dinge, die zu erwarten waren («kommt mit viel Innenraum») und nichts, was gegen die Nutzung in Altbauwohnungen spricht. Es eignet sich zum Trekking und Hiking in den Bergen. Wir sind in Schöneberg und hiken mit dem halb aufgebauten Zelt vom Balkon in die Küche.

Neben dem Herd macht es sich prächtig, auf Heringe verzichten wir. Mir kommt die Speisekarte eines thailändischen Restaurants in den Sinn, in dem ich mal sass und, sofern die Übersetzung richtig war, «ein Thai-Gericht aus alten Zelten» ass. Die Dinge fügen sich auf wundersame Weise. Es wird ein Microadventure im Reich der Mikrowelle.

Ich würde sagen, in unserem Fall handelt sich um eine Art Vorzelt. Und falls mich jemand fragen sollte, wo ich in den Ferien war, sage ich: «In den Apsiden.» Wenn das nicht exotisch ist. Aber zunächst sage ich gute Nacht. Und dann: «Hörst du das?»

Es fliesst Blut

«Es muss ein verbluteter Zahn sein!», ruft meine Tochter. Apside auf, sie flitzt ins Bad und kommt mit einem Milchzahn in der Hand und blutverschmiertem Mund als stolze Lückenbesitzerin zurück. Genug Aufregung für heute. Die Mission Microadventure ist mehr als erfüllt. Wir starren an den Zelthimmel und werden ruhig. «Siehst du den Wal?», frage ich. Er schwimmt direkt über uns. Es wird doch kein Immobilienhai sein, denke ich noch. Dann schlafen wir ein.

Kommt jetzt die Zahnfee?

Als wir gegen acht Uhr erwachen, bin ich schwer von Begriff. Welcher Wal? Und was für ein Zahn? Wovon redet meine Tochter? «Der andere Wackelzahn ist auch draussen», höre ich. Tatsächlich. Dass eine Nacht im Indoor-Zelt zwei Schneidezähne kostet und so viel Aufregung bietet, hätte ich nicht gedacht.

Es trappelt in der Küche, eine Apside öffnet sich. Was jetzt? Kommt die Zahnfee? Oder hat uns das Sozialgericht über Nacht noch einen Mitbewohner vermittelt? Nein, zum Glück ist es nur ein schlecht gelauntes Monster mit zwei furchteinflössenden Eckzähnen.

Noch mehr Geschichten, die das Leben schreibt und die ich dann aufschreibe, findest du in meinem Autorenprofil.

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Einfacher Schreiber, zweifacher Papi. Ist gerne in Bewegung, hangelt sich durch den Familienalltag, jongliert mit mehreren Bällen und lässt ab und zu etwas fallen. Einen Ball. Oder eine Bemerkung. Oder beides.


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