Hintergrund

Die hohe Kunst des Wartens

Die Jagd – nirgends in der Schweiz ist sie so stark verankert wie im Kanton Graubünden. Sie gehört zum Bündnerland wie Läckerli zu Basel. Eine Spurensuche.

Die Bündner Hochjagd

Die hohe Kunst des Jagens, das wird mir schnell klar, müsste eigentlich die hohe Kunst des Wartens heissen. Wir kraxeln den Schamserberg an der südöstlichen Flanke des Piz Beverin hoch und spiegeln mit den Ferngläsern immer wieder das Terrain um uns herum. Gehen, warten, beobachten, gehen, warten. Bis wir schliesslich Halt machen. Die Luft ist erfüllt vom Pfeifen der Murmeltiere. Auch «Mungga» dürfen geschossen werden. 4 640 waren es letztes Jahr.

«Schaut mal, der hat die Hosen unten und schifft einfach in unsere schöne Bündner Berglandschaft.» Claudio hat einen Wanderer ausgemacht, der sein Geschäft verrichtet. Die Feldstecher gehen hoch. Wenn der gute Mann wüsste, dass ihm gerade acht Augen aus 200 Metern beim Pinkeln zuschauen.

Reger Betrieb am Berg

Der eine uriniert, die andere spaziert mit ihrem Hund am Berg. Als nächstes kommt ein Motorrad den Hang hinunter. Es ist was los hier auf 2000 Meter über Meer. «Am Wochenende wird's dann so richtig voll», meint Claudio. Der Zeigefinger bleibt lang und ist nicht am Abzug. Geschossen wird hier und heute nicht. Nach zwei Stunden machen wir uns unverrichteter Dinge auf den Rückweg zur Hütte. Die hohe Kunst des Wartens halt.

Auf halbem Weg kommen wir an einem Abhang mit hohen Büschen vorbei und bleiben stehen. Am Vortag haben die Jäger hier Rehe ausgemacht. Claudio schlägt vor, dass Marc und ich als Mitläufer zusammen in das Gelände gehen, rund 200 Meter den Berg hochklettern und ein bisschen aufs Unterholz klopfen. Durch dieses «Drücken» wird Wild, das sich vielleicht dort versteckt, aufgescheucht. Links und rechts davon postieren sich Claudio und Marco.

Und dann steht sie plötzlich da. Die Gämse. Auf dem Bergrücken über uns und schaut zu uns herunter in die Senke. Das perfekte Postkartensujet. Ich bekomme Gänsehaut und fühle mich für einen Moment im Angesicht dieser Erhabenheit klein. Den Rest des Weges zurück zur Hütte lassen Claudio, Marco und Marc den Tag Revue passieren. Ich bin still und nehme die Bergwelt in mich auf.

Von wegen Nachhaltigkeit

Kindheitserinnerung. Wenn Papa Wild kocht. Der Duft von Rotwein und frischem Wild hängt in der Wohnung. Wir sind zurück in der Hütte. Heute hat Marco gekocht. Es gibt Rehragout mit Spätzli. Derselbe Duft. Wir essen bei Kerzenlicht. Es ist schon fast kitschig gemütlich. Das mulmige Gefühl von heute Nachmittag ist einer wohligen Wärme in der Magengegend gewichen.

Marco und Marc erzählen von der Jagd im letzten Jahr und wie sie das Reh, das wir heute essen, erlegt haben. Die beiden erinnern sich an jedes Detail. Wie das Wetter war, wo sie das Reh schossen und wie lange es dauerte, das Tier zu bergen. Das hätte ich nicht gedacht. «Wir wissen von jedem Stück Fleisch, das wir das Jahr über essen, von welchem Tier es stammt und wie die Jagd damals verlief», fährt Marc fort.

Warum jagt der Mensch heute noch? Im zweiten Teil der Galaxus Jagd-Reportage versuche ich, darauf eine Antwort zu finden. Folge hier meinem Autorenprofil und verpasse sie nicht.

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Vom Radiojournalisten zum Produkttester und Geschichtenerzähler. Vom Jogger zum Gravelbike-Novizen und Fitness-Enthusiasten mit Lang- und Kurzhantel. Bin gespannt, wohin die Reise noch führt.


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