Hintergrund

Eine Frage von Leben und Tod

Auf Spurensuche im Kanton Graubünden. Dort hat die Jagd eine lange Tradition und ist fest in der Gesellschaft verwurzelt. Ich begleite drei Jäger auf der Bündner Hochjagd.

Bin wach. Draussen ist tiefschwarze Nacht. Still liege ich in der Jagdhütte in meinem Schlafsack und lausche der Natur. Etwas schleicht leise schnaubend ums Haus. Vielleicht ein Wildschwein? Ein kurzer Blick zur Uhr, es ist zehn vor fünf. Vor wenigen Stunden sassen wir noch gemütlich bei Kerzenlicht, Rotwein und frischem Rehragout zusammen. Claudio, Marco und Marc, die Bündner Jäger, und ich. Sie nehmen mich beim Piz Beverin mit auf die Jagd. Zeit aufzustehen.

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    Die hohe Kunst des Wartens

    von Patrick Bardelli

Zum Frühstück gibt es Kaffee, Konfibrot und Käse. Dann geht es hinaus. Ein neuer Tag wartet. Das Morgenrot kündigt sich, scheu wie das Wild, zögerlich über den Bergkämmen an. Andacht. Wie in einer Kirche. Unsere Stimmen bleiben gedämpft. Ich begleite Marco zum «Heli 1», während sich Claudio mit Video Producer Manuel auf den Weg ins «Töbeli» macht. Die Jäger haben ihren Positionen Namen gegeben, die das Gelände beschreiben. Das «Töbeli» befindet sich in einer Talsenke, dort verbringen Claudio und Manuel den Vormittag. Mehr dazu im Video oben. «Heli 1» gleicht tatsächlich einem Helikopter-Landeplatz. Hier richten Marco und ich uns ein. Marc hat unterdessen auf «Heli 2» Position bezogen.

Bei Tageslicht: Links geht's runter zum «Heli 1», rechts zum «Töbeli».
Bei Tageslicht: Links geht's runter zum «Heli 1», rechts zum «Töbeli».

Kein Sitzleder

Marco und ich sitzen im Dunkeln und warten. Die ersten Sonnenstrahlen kriechen über die Gipfel und tauchen das Land vor uns in ein kühles Licht. Nach einer halben Stunde wird mir wieder schmerzlich bewusst, was ich schon lange weiss: Ich habe kein Sitzleder. So erhaben der Anblick der Bündner Berge, so unbequem die Position, die ich alle paar Minuten verändere. Marco sitzt unterdessen stoisch da. Mit dem Feldstecher beobachtet er das Terrain vor uns. «Geht es?», flüstert er. Ich nicke, was eine Lüge ist. Und frage mich, ob es den erfahrenen Jäger – Marco jagt seit 29 Jahren – nervt, neben einem zappeligen Städter zu sitzen. Falls ja, lässt er es sich nicht anmerken.

Fast drei Stunden sitzen wir auf Heli 1. Reden über Gott und die Welt. Aber hauptsächlich über Hockey. Marco war in den 80er-Jahren Torhüter des EHC Chur. Spielte unter anderem mit Thomas Vrabec im selben Team. Heute arbeitet er als selbstständiger Sport-Physiotherapeut. Beinahe frage ich ihn, ob er sich nicht mein linkes Knie ansehen könne, das schmerzt seit einigen Wochen. Lasse es dann aber bleiben. «Heute muss ich lachen, wenn ich daran denke, wie wir vor 30 Jahren trainiert haben», sagt Marco. Und fährt fort: «Da hiess es: Du hast Muskelkater? Super, gleich wieder trainieren. Aus heutiger Sicht völlig falsch. Und dann dieses Froschhüpfen, die Zuschauertribünen im Stadion rauf und runter. Da konntest du am nächsten Tag kaum gehen.» Wir lachen leise und schweigen wieder, die Feldstecher vor den Augen. Vom Wild ist nichts zu sehen.

Zwischendurch gebe ich vor, pinkeln zu müssen. Damit ich einen Grund habe, aufzustehen und mir ein bisschen die Beine zu vertreten. Einige Schritte entfernt liegt Marc auf Heli 2 in Position. Regungslos liegt er da und spiegelt mit dem Feldstecher das Gelände. Wüsste ich es nicht besser, würde ich denken, dass da eine Puppe liegt. Keine Bewegung auszumachen.

Marco auf dem Weg zu «Heli 1».
Marco auf dem Weg zu «Heli 1».

Eine Frage von Leben und Tod

Kurze Zeit später sitze ich wieder bei Marco. Wir warten, beobachten und unterhalten uns über die Schweizer Spieler in der NHL und ihre Perspektiven für die neue Saison. Und dann erzählt er mir, wie er in der Woche vor meinem Besuch hier an einem Tag zwei Hirschkühe geschossen hat. Kurz hintereinander. Zuerst die eine, einige Sekunden später die andere. Um die Mittagszeit war das. Er sass vor Tagesanbruch auf Heli 1 und wartete sechs Stunden. «So ist das mit dem Jagen», sagt er. «Du wartest, beobachtest, hängst deinen Gedanken nach und plötzlich steht das Wild vor dir.» Schlagartig wird mir wieder bewusst, dass es für die Rehe und Hirsche um Leben und Tod geht, während wir über Eishockey plaudern. Ich fühle mich seltsam.

Warum wird heute noch gejagt? Ich wollte mir diese Frage während meines Besuchs der Bündner Hochjagd beantworten. Als mir Marco von seinem Jagderlebnis erzählt, blicke ich in seine Augen und sehe eine Mischung aus Stolz, Dankbarkeit und Demut, ja beinahe Schmerz. Und auch wenn ich die Jagd nicht wirklich verstehe, verstehe ich in diesem Moment, warum er jagt.

«Das wird heute nichts mehr. Lass uns zurück zur Hütte gehen.» Marco ist aufgestanden und verstaut seine Ausrüstung im Rucksack. Das Wild zeigt sich nicht. Kein Reh und kein Hirsch wird hier und jetzt sein Leben lassen. «Meinst du, die Schweizer holen nächstes Jahr an der Heim-WM Gold?», will ich von Marco auf dem Heimweg wissen. «Schon möglich.» Den Eishockey-WM-Titel im eigenen Land zu holen, wäre schön, aber keine Frage von Leben und Tod.

Die «Hausherren» vor ihrer Hütte: Marco, Claudio und Marc.
Die «Hausherren» vor ihrer Hütte: Marco, Claudio und Marc.

Die Zahlen zur Bündner Hochjagd findest du hier. Weitere Informationen zum Thema gibt's beim Amt für Jagd und Fischerei des Kantons Graubünden.

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Vom Radiojournalisten zum Produkttester und Geschichtenerzähler. Vom Jogger zum Gravelbike-Novizen und Fitness-Enthusiasten mit Lang- und Kurzhantel. Bin gespannt, wohin die Reise noch führt.


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