

Ein Schlüsselerlebnis oder warum ich mir einen Sommer lang in den Hintern beissen wollte

Acht lange Wochen ist mein Schlüssel verschwunden. Ich schwanke zwischen Hoffnung, Frust und Selbstvorwürfen. Vor allem, weil eine mögliche Lösung auf meinem Schreibtisch liegt.
Schlüssel weg. Dass das ausgerechnet mir passieren muss. Der menschgewordenen Suchmaschine der Familie, die sonst meistens weiss, wo die Dinge geblieben sind. Permanent scanne ich meine Umgebung und speichere ab, was falsch aussieht. Die Brille auf der Waschmaschine. Der Turnsack hinter dem Sessel. Das Smartphone im Badezimmerschrank. Ich sehe alles, schüttle oft den Kopf und mache mir, leicht überheblich, wenig Sorgen um meine eigenen Sachen, solange sie ausser mir niemand anfasst. Denn bei mir haben die Dinge einen festen Platz. Vor allem mein Schlüssel. Der steckt in der Tür oder klappert im Hosensack. Was soll da schon schiefgehen? Nichts. Bis ich eines schönen Julitages laufen gehe und das Schicksal mir einen Streich spielt.
Dumm gelaufen
Beim Joggen kommt mein Schlüssel zusammen mit dem Smartphone in eine kleine Reissverschlusstasche an der Hose. Reissverschluss zu, dann die Kopfhörer ins Ohr und los geht’s. Es kann also gar nichts passieren. Ausser, dass ich laut Musik höre, während sich durch die Erschütterung langsam, aber stetig die geklebte Naht dieser Tasche auflöst und ein sogenanntes Loch entsteht.
Dieses Loch ist gerade gross genug, um dem Schlüssel einen Weg in die Freiheit zu bahnen, während das Gewicht des Smartphones suggeriert, dass alles in bester Ordnung ist. Am Ende meiner Runde greife ich routiniert zur Tasche und weiss sofort, dass der Schlüssel weg ist. Da hilft auch kein zweiter und kein dritter, immer hektischer werdender Griff.

Trotzdem rede ich mir ein, dass ich den Schlüssel zuhause vergessen haben könnte (was natürlich nicht der Fall ist) oder dass er noch mitten auf dem Weg liegt und ich ihn nur einsammeln muss (was natürlich ebenfalls nicht mehr der Fall ist). Zu viele Hündeler, Joggerinnen und rüstige Rentner sind unterwegs. Meine Mitmenschen. Meine Hoffnung. Ich glaube ja grundsätzlich an das Gute in Zürchern. Speziell derer, die im Wald unterwegs sind. Trotzdem will ich mir umgehend dafür in den Hintern beissen, dass ich keinen sachdienlichen Hinweis am Schlüsselbund habe.
Zum Nachdenken verdammt
Wie wertvoll wäre jetzt meine Telefonnummer an einem Anhänger oder einer dieser Tracker, die mir den Aufenthaltsort verraten. Wobei es auch komisch wäre, irgendwo zu klingeln und «ich glaube, Sie haben meinen Schlüssel» zu sagen. Dauerortung ist nicht meins. Aber irgendwo bei meinem Bürokram liegt eine Packung Thnx Tags, die ich mal als Muster bekommen und bislang ignoriert habe.

Kleine Anhänger und Aufkleber mit QR-Code, die zu einer Kontaktmaske mit Call- oder WhatsApp-Button und einer Nachricht von mir führen. Hätte ich sie mal verwendet, dann wäre mein Schlüssel vielleicht schon wieder da. Ich hasse den Konjunktiv, bin aber zum Warten und Nachdenken verdammt. Ersatzweise beginne ich damit, Smartphone, Portemonnaie und andere Wertsachen mit Code-Stickern zu bepflastern.

In der Warteschleife
Tage vergehen. Und aus Tagen werden Wochen. Auf jeder Laufrunde hoffe ich darauf, dass irgendwo mein Schlüssel aufblitzt. Ich frage bei Vereinen und in Restaurants am Wegesrand, melde mich bei der Polizei und eröffne natürlich eine Verlustmeldung beim Fundbüro, auf dessen Website ich täglich die neu erfassten Schlüssel checke. Ich tröste mich damit, dass andere Schlüsselanhängsel genauso sinnlos sind wie mein Karabiner: «Schlüssel: 1 Stück, Anhänger: Filzschlaufe türkisfarbig; Aufdruck: nicht verlieren!» ist mein absoluter Liebling. «Schlüssel: 4 Stück, Anhänger: Plüschhund, kleines Messgerät». Auch nicht schlecht. Aber nicht hilfreich.
Nichts gegen Walbo Wabbel, aber er ist sinnlos

Walbo Wabbel & Co. helfen genauso wenig wie mein manisches Gescrolle, denn die Schlüsselnummer ist bei meiner Verlustmeldung hinterlegt. Wird er abgegeben, meldet sich das Fundbüro. Trotzdem klemme ich mich in die Warteschleife, sobald ein potenziell passendes Fundstück in der Stadt Zürich auftaucht. Eine halbe Stunde Musik und 15 Minuten Tuten später weiss ich dann, was ich eigentlich schon vorher wusste – dass es wieder mal vergeblich war und «Schlüssel: 4 Stück, Anhänger: Karabiner» aus einer anderen Tasche geflutscht ist.
Das Glück kommt zurück
Jeden Tag werde ich an meinen Verlust erinnert. Jeden Tag glaube ich weniger daran, dass sich noch etwas tut. Doch dann, irgendwann, kommt das Glück zu mir zurück. Es steht in Form des Sohns unserer Vermieter vor der Tür, der mit meinem Schlüssel klimpert und sagt: «Der war in der Post!» Meine erste Amtshandlung nach einer Danksagung an den Überbringer: Weg mit dem Karabiner, ran mit dem Thnx Tag.

Was vor Wochen im Wald passiert sein muss, stelle ich mir in etwa so vor: Ein kleiner Chihuahua zerrt kläffend an seiner Leine und schnuppert an etwas, das die ältere Dame am anderen Ende der Leine als Schlüssel erkennt. Sie befreit ihn vom Dreck des Weges, nimmt ihn mit nach Hause, packt ihn in einen Umschlag, frankiert diesen, macht sich auf zum nächsten Briefkasten und schickt ihn mit dem Stichwort «Fundschlüssel» an die dormakaba Schweiz AG in Wetzikon, wo er anhand der Schlüsselnummer identifiziert werden kann und an die rechtmässigen Besitzer zurückgesendet wird.
Was für ein wunderbar geordneter Ablauf, der wahrscheinlich in maximal 12 Ländern dieser Welt funktionieren und den ich künftig trotzdem gerne per Thnx Tag abkürzen würde. Besser als ein Karabiner am Schlüssel ist das allemal. Ich hätte meinen vermutlich am selben Tag wieder gehabt. Hätte in der App ein paar freundliche Zeilen schreiben und einen Finderlohn ausloben können. Und vor allem hätte ich die Chance gehabt, persönlich Danke zu sagen und der ehrlichen Finderin ein Buch über das Suchen und Finden der wirklich wichtigen Dinge im Leben zu schenken, die im Fundbüro für Immaterielles gesammelt wurden.



Einfacher Schreiber, zweifacher Papi. Ist gerne in Bewegung, hangelt sich durch den Familienalltag, jongliert mit mehreren Bällen und lässt ab und zu etwas fallen. Einen Ball. Oder eine Bemerkung. Oder beides.