Hintergrund

Dem Laufen auf der Spur: Die Magie der Symmetrie

Michael Restin
18.10.2022

Wer die passenden Gene in die Wiege gelegt bekommt, hat beim Sprint einen entscheidenden Vorteil. Schon ein Blick auf die Knie lässt darauf schliessen, ob jemand Bestzeiten laufen kann. Nicht nur auf zwei Beinen.

Usain Bolt ist der Beste – und damit wohl das beste Beispiel. Der schnellste Sprinter, der bislang über die Tartanbahnen dieser Welt gerast ist, pflegte nebenbei das Image des lässigen Lebemanns, der mit einem Lächeln und mittelgesunder Ernährung von Rekord zu Rekord jagte. Die Bolt-Show verdeckte, dass nicht nur aussergewöhnliches Talent gepaart mit körperlichen Vorteilen, sondern auch extremes Training dahintersteckt. Mit seinen langen Beinen flog er praktisch ins Ziel, brauchte auf die 100 Meter im Schnitt drei Schritte weniger als seine meist kleinere Konkurrenz.

Doch es gibt nicht nur ihn. Seine kleine Heimat Jamaika bringt reihenweise Top-Sprinterinnen und -Sprinter hervor. Trotz Kritik am knallharten Fördersystem und einem Doping-Generalverdacht, der in der Leichtathletik immer mitläuft, ist klar: dort leben schnelle Menschen. Mit einem hohen Anteil «schneller» Typ-IIb-Muskelfasern und anderen Vorzügen, die dafür sorgen, dass Athletinnen und Athleten aus anderen Teilen der Welt sie meistens nur von hinten sehen. Das macht die Sprinter-Insel für die Wissenschaft interessant.

Auf die Knie kommt es an

Während einige dem «speed gene» ACTN3 nachspüren oder ermitteln, dass Menschen westafrikanischen Ursprungs (was auf einen Grossteil der jamaikanischen Bevölkerung zutrifft) über acht Prozent mehr Typ-II-Muskelfasern haben, hat ein Team um den Evolutionsbiologen Robert Trivers einen anderen, auf den ersten Blick einfachen Ansatz gewählt: Die Forschenden haben sich die unteren Extremitäten ganz genau angeschaut und nachgemessen.

Im Rahmen einer Langzeitstudie wurde 1996 bei 288 jamaikanischen Kindern im Alter von fünf bis elf Jahren die Symmetrie des Körpers ermittelt, was an den Beinen die Knie- und Knöchelbreite sowie die Fusslänge beinhaltete. Zehn Jahre später unterzogen sie sich als Jugendliche erneut dieser Prozedur und 14 Jahre nach der ersten Messung stellten sich 163 von ihnen als junge Erwachsene einem Sprint-Test.

Es waren vornehmlich diejenigen mit hohen Symmetrie-Werten, die überhaupt Lust auf diesen Test hatten. Und besonders schnell war, wer mit symmetrischen Knien antrat. Das erscheint logisch und effizient, wenn es darum geht, schnell geradeaus zu laufen. Trotzdem waren die Forschenden von diesem eindeutigen Zusammenhang überrascht, der statistisch signifikant sofort ins Auge sprang. Also machten sie sich daran, nach dieser untrainierten Gruppe auch einige der besten Läuferinnen und Läufer des Landes (und damit der Welt) zu vermessen.

Wenig überraschend waren auch hier die Knie der Athletinnen und Athleten symmetrischer als die der Kontrollgruppe aus der Normalbevölkerung. 30 der insgesamt 74 waren auf die 100 Meter spezialisiert und hatten die «perfektesten» Knie, wobei die der schnellsten Athletinnen und Athleten dieser Sprint-Elite wiederum am symmetrischsten waren. Bei der dreifachen Olympiasiegerin und zehnfachen Weltmeisterin Shelly-Ann Fraser-Pryce war praktisch kein Unterschied zwischen rechts und links festzustellen.

Auch die Knöchel waren bei den 100-Meter-Spezialisten auffallend symmetrisch. Die Füsse spielten dagegen keine besondere Rolle. Wer längere Distanzen und damit Kurven lief, war an den Knien und speziell an den Knöcheln schon nicht mehr ganz so baugleich.

Instinktiv attraktiv

Das wirft die Frage auf, ob diese Merkmale eine Folge des Trainings oder quasi angeboren sind. Was die Knie angeht, deutet die Langzeitstudie mit den Kindern darauf hin, dass sich daran schon früh erkennen lässt, wer später schnell sein wird. Vermutlich gilt das nicht nur auf Jamaika, auch wenn ähnliche Daten aus anderen Teilen der Welt fehlen.

Generell ist Symmetrie etwas, das wir nicht nur instinktiv attraktiv finden, sondern das allem Anschein nach auch unter athletischen Aspekten nützlich ist. Sogar wenn es um symmetrische Ohren und Nasenlöcher geht, die mit besseren Laufleistungen auf der Mittelstrecke in Verbindung gebracht werden. Ähnliche Zusammenhänge wurden auch bei Rennpferden festgestellt.

In Zukunft auf allen vieren?

So faszinierend und symmetrisch die Sprint-Leistungen der Weltklasse-Athletinnen auch sind: Im Vergleich zum Tierreich sind selbst Bolts 44,72 km/h in der Spitze eher lahm. Sogar eine Hauskatze kommt auf 48 km/h und grössere Vierbeiner sind völlig ausser Reichweite. Um mithalten zu können, denken wir Menschen uns für gewöhnlich technische Lösungen aus. Zum Beispiel ein Exoskelett mit Sprungfeder, das Bolt bei seinem Weltrekordlauf theoretisch auf über 70 km/h beschleunigt hätte.

Vielleicht führt die Zukunft des Sprints aber auch zurück zur Natur. Auf alle viere. Eine Studie stellt allen Ernstes die Hypothese auf, dass bei den Olympischen Spielen 2048 der Sieger über die 100 Meter auf Händen und Füssen in 9,276 Sekunden ins Ziel galoppieren könnte, womit der schnellste Zweibeiner (9,383 Sekunden) geschlagen wäre. Dafür müssten sich die Athleten weniger an der Galopptechnik von Pferden, sondern eher am Gepard oder Windhund orientieren. Nicht alles ist symmetrisch. Manches ist auch einfach schräg.

Titelbild: Salty View / Shutterstock.com

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Einfacher Schreiber, zweifacher Papi. Ist gerne in Bewegung, hangelt sich durch den Familienalltag, jongliert mit mehreren Bällen und lässt ab und zu etwas fallen. Einen Ball. Oder eine Bemerkung. Oder beides.


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