Dem Laufen auf der Spur: Der Fuss, ein komplexes Bewegungspuzzle
Hintergrund

Dem Laufen auf der Spur: Der Fuss, ein komplexes Bewegungspuzzle

Michael Restin
29.4.2022
Bilder: Thomas Kunz

Ich will den menschlichen Gang besser verstehen und dafür ins Detail gehen. Ein Gespräch mit dem Sportmediziner Prof. Dr. Johannes Scherr über anatomische Grundlagen, kollabierende Mittelfüsse und Sneakers, die keine Laufschuhe sind.

Allzu oft mache ich mir über meine Füsse keine Gedanken. Heute haben sie mich zum Zentrum für Prävention und Sportmedizin an der Universitätsklinik Balgrist getragen und sollen im Mittelpunkt stehen. Ich treffe dort den Chefarzt Prof. Dr. Johannes Scherr. Der Sportmediziner ist so nett und beantwortet auch scheinbar simple Fuss-Fragen. Weil ich den menschlichen Gang nach und nach besser verstehen will und irgendwo anfangen muss, beginne ich ganz unten. Und ganz von vorne.

Prof. Dr. Johannes Scherr ist Leiter des Universitären Zentrums für Prävention und Sportmedizin.
Prof. Dr. Johannes Scherr ist Leiter des Universitären Zentrums für Prävention und Sportmedizin.

Ich habe im Vorfeld unseres Gesprächs in Anatomiebüchern geblättert und festgestellt, wie wenig ich über den Fuss weiss. Lässt sich in einfachen Worten zusammenfassen, wie er aufgebaut ist?
Prof. Dr. med. Johannes Scherr: Ich probier’s mal. Wir haben, von vorne nach hinten: Die Zehen, den Mittelfuss, die Fusswurzelknochen und die beiden tragenden Elemente an der Ferse, Calcaneus und Talus. Auf Deutsch heissen sie Fersenbein und Sprungbein. Dann folgt der Übergang in Richtung Tibia und Fibula, das sind Schien- und Wadenbein, die mit dem Talus das obere Sprunggelenk bilden.


Weil sich vieles besser verstehen lässt, wenn man es sieht, hat Scherr ein Modell mitgebracht. Er biegt und streckt, demonstriert und doziert. Os naviculare. Os cuboideum. Tarsometatarsalgelenke. Unsere Füsse sind nicht die grössten Körperteile, aber in ihnen stecken zusammen etwa ein Viertel aller Knochen. Je 26 sind es. Dazu zwei knöcherne Sesambeine, die in die kurzen Beugesehnen der Grosszehe eingebettet sind und als Drehpunkt zur Hebelwirkung beitragen. 33 Gelenke, 20 Muskeln und 114 Bänder sorgen auf Schritt und Tritt für ein komplexes Zusammenspiel, das sich übers Sprunggelenk, an dem Scherr in seinen Erklärungen bereits angekommen ist, nahtlos nach oben fortsetzt.

Von den Zehen bis zum Fersenbein: Der menschliche Fuss ist komplex.
Von den Zehen bis zum Fersenbein: Der menschliche Fuss ist komplex.
Quelle: MR

Letztendlich müssen unsere Füsse das gesamte Körpergewicht tragen. Wie verteilt es sich im Stand?
Die Hauptbelastungspunkte sind an den Sesambeinen unterhalb des ersten Mittelfussköpfchens, dann über dem Kleinzehengrundgelenk und über der Ferse.

Und was passiert, wenn wir gehen oder laufen?
Das können wir uns in der Pedobarographie anschauen. Wir haben bei dir im Rahmen deiner Ganganalyse ja auch eine Fussdruckmessung gemacht. Dadurch sieht man die Druckverteilung und die Hauptbelastungszonen. Wenn du normal gehst, kommt zuerst der Rückfuss auf und rollt dann über den Mittelfuss ab. Das passiert eher über die Aussenkante. Wenn du dich in der Ganglinie vorne abdrückst, geschieht das letztendlich über die Grosszehe und den zweiten Zeh. Speziell die Grosszehe ist wichtig beim Gehen, sie verleiht Stabilität.

Links die Ganglinie meines linken Fusses. Rechts sind im Vergleich beider Füsse leichte Unterschiede bei der Druckverteilung zu sehen.
Links die Ganglinie meines linken Fusses. Rechts sind im Vergleich beider Füsse leichte Unterschiede bei der Druckverteilung zu sehen.

So läuft es bei einem gesunden Fuss ab. Wie sind die Gewölbe aufgebaut, damit sich das Gewicht entsprechend verteilt und der Fuss nicht platt auf dem Boden steht?
Wir haben das Längsgewölbe und das Quergewölbe, die durch Sehnen, Bänder und Muskeln aufgespannt werden. Diese sind, was das Längsgewölbe betrifft, aber nur teilweise am Fuss selber. Dort haben wir zum Beispiel die kurze Fussmuskulatur, die Fusssohlensehnenplatte und das lange Sohlenband. Andere sind an den Unterschenkel ausgelagert.

Welche wären das?
Am belasteten Fuss unterstützt die Tibialis-posterior-Sehne des hinteren Schienbeinmuskels das mediale Längsgewölbe. Der Grosszehenbeuger Musculus flexor hallucis longus und der lange Zehenbeuger Musculus flexor digitorum longus haben ihren Ursprung ebenfalls am Unterschenkel, sie zählen zu den tiefen Wadenmuskeln.

Beim Mensch dauert es ungefähr ein Jahr, bis wir auf Plattfüssen die ersten Schritte machen. Wie verläuft die weitere Entwicklung?
Zwischen dem elften und zwölften Lebensjahr sollte der Fuss voll entwickelt sein. Es hängt aber auch von der Belastungsform ab. Längs- und Quergewölbe sind ja auch muskulär verspannt. Je mehr man sie trainiert, desto früher sind sie ausgeprägt.

Wie gross werden die Kräfte, die beim Gehen und Laufen wirken?
Das skelettale System ist da nicht alleine ausschlaggebend. Sondern auch die Sehnen, die letztendlich wie Federn wirken. Es kommt darauf an, wie schnell man geht und wieviel man abfedert.

Ich kann über die Ferse abrollen, mit dem Mittelfuss aufsetzen oder auf dem Vorfuss laufen. Welchen Unterschied macht die Lauftechnik?
Grundsätzlich wirken die gleichen Kräfte. Egal, ob du auf dem Rückfuss oder Vorfuss läufst: Der Impuls ist Masse mal Geschwindigkeit. Einmal hast du den Impuls hinten an der Ferse und einmal vorne. Da hinten die Fläche kleiner ist, hast du höhere Druckspitzen, als wenn du auf dem Vorfuss läufst. Aber der Impuls auf Höhe des Sprunggelenks bleibt gleich. Irgendwo musst du die Energie aufnehmen.

Die Energie, die beim Bodenkontakt übertragen wird.
Die vertikale Geschwindigkeit, mit der du aufkommst, ist der Impact. Bei Sprintern oder wenn du springst, wird er natürlich grösser. Unter Jogger:innen sieht man auch oft Schleicher, die den Fuss beim Laufen nur nach vorne schieben und kaum einen Hub nach oben haben. Also viel Horizontalbewegung bei kaum Vertikalbewegung. Da ist der Impact geringer.


Im Video unten siehst du, was passiert, wenn Spitzensportler den Boden berühren. Beim Sprinter treten innerhalb von 100 Millisekunden extreme Kraftspitzen auf. Bodenreaktionskräfte, die bis zum Fünffachen des Körpergewichts entsprechen. Beim Weltklasse-Marathonläufer ist die Kurve flacher und die Kontaktzeit länger. Er fängt über die Distanz 25 000-mal bis zum Dreifachen seines Körpergewichts ab.

Irgendwann werden auch gesunde Füsse müde. Laufen wir sie uns sprichwörtlich platt?
Einerseits schwellen sie im Tagesverlauf durch den hydrostatischen Druck an, der vom Venensystem von oben auf dem Fuss lastet. Aber auch die Fussmuskeln, die das Quer- und Längsgewölbe verspannen, werden irgendwann müde. Dann flachen die Gewölbe ab und der Fuss wird breiter und länger. Man sieht das zum Beispiel bei Läufer:innen, die vier Stunden Marathon gelaufen sind oder erst nach sechs Stunden mit dem Besenwagen ins Ziel kommen.

Wer gerade erst mit dem Laufen beginnt, bekommt dann vermutlich früher ein Problem mit seinen Füssen?
Es muss nicht unbedingt sein, dass Laufanfänger:innen Probleme bekommen. Da kommt es auf die Fussstabilität an. Bei Leuten, die den ganzen Tag vor dem Bildschirm sitzen und die Füsse lange gar nicht richtig belastet haben, kann das schon passieren. In diesem Fall würde ich schrittweise Steigerungen empfehlen und mit Fussstabilitätsübungen beginnen, die man auch im Sitzen machen kann.

Die Füsse sind also nicht unbedingt der Körperteil, der zuerst schlapp macht.
Meistens ist es die gesamte Bewegungskette. Es hängt alles zusammen und beginnt zum Beispiel mit einem «midfoot collapse», der Mittelfuss knickt also beim Laufen nach innen. Dadurch dreht das Knie nach innen und irgendwann folgen vielleicht Probleme in der Hüfte oder an der Wirbelsäule.


Laufen ist Teamwork zwischen den Körperteilen. Schwächelt einer davon, müssen es die anderen ausgleichen. Ein oft schleichender Prozess, der so individuell ist, dass bei der Ursachenforschung das Gesamtsystem betrachtet werden muss. Auf das Zusammenspiel kommt es an.

  • Hintergrund

    Dem Laufen auf der Spur: Die Ganganalyse im Bewegungslabor

    von Michael Restin

Was Fussbeschwerden angeht, fallen mir als erstes Platt-, Knick-, Senk- und Spreizfuss ein. Sind das die häufigsten Probleme?
Nein, nicht direkt. Dies würde auf die Fehlbildungen zutreffen. Schaut man jedoch Beschwerden der unteren Extremität an, haben bei uns zum Beispiel sehr viele Patient:innen aber auch Athlet:innen einen «midfoot collapse». Wenn wir von medizinisch relevanten Beschwerden sprechen, ist der Hallux valgus am häufigsten. Hier kommt es zu einer Varus-Fehlstellung des ersten Mittelfussknochens, dessen Köpfchen am Fussinnenrand deutlich nach medial hervortritt. Das kann am Schuhwerk und der Belastung liegen, aber knöcherne Deformitäten sind häufig auch erblich bedingt.

Der Hallux valgus ist eine Fehlstellung des ersten Mittelfussknochens.
Der Hallux valgus ist eine Fehlstellung des ersten Mittelfussknochens.
Quelle: Blausen.com staff (2014). Medical gallery of Blausen Medical 2014. WikiJournal of Medicine 1 (2). DOI:10.15347/wjm/2014.010

Ich habe also nicht immer die Chance, so etwas durch Training zu verhindern.
Genau, du kannst auch einfach Pech haben. Bis zu einem gewissen Grad kann man mit Training etwas erreichen. Wenn das nicht mehr möglich ist, wird der Knochen operativ zurechtgestellt. Davon sind Frauen häufiger betroffen. Auch Übergewicht und das häufige Tragen von ungeeignetem Schuhwerk mit zu hohen Absätzen, engen Spitzen oder in zu kleinen Grössen werden als Risikofaktoren angesehen.

Sind Frauen auch von anderen Fussproblemen häufiger betroffen?
Der Pes planovalgus, also ein Knick-Senkfuss, kommt bei Frauen etwa dreimal häufiger vor. Das hängt mit anatomischen Unterschieden zusammen und fängt schon in der Hüfte an. Das Becken ist breiter und etwas verkippt. Das wirkt sich über den Oberschenkelknochen auf die Knie aus, wo es vermehrt die X-Beinstellung gibt. Dadurch bildet der Unterschenkel mit dem Fuss häufiger einen Knickfuss.

Als Hauptursachen für Fussprobleme nennt Dr. Google weit oben: Bewegungsmangel, Überlastung, falsche Schuhe.
Wenn man Bewegungsmangel hat und die Füsse nicht belastet, schwindet natürlich die Muskulatur. Eine Inaktivitätsatrophie. Wenn ich die Füsse nur hochlege, halten sie nicht mal mehr mein Standgewicht. Dann ist klar, dass sie immer schwächer werden.

Unsere Füsse wollen gefordert werden.
Unsere Füsse wollen gefordert werden.

Und wie vermeide ich das Gegenteil, die Überlastung beim Laufen?
Das kommt darauf an. Ich bin kein Fan einer riesigen Pronationsstütze. Manche brauchen das, gerade wenn sie mit dem Laufen beginnen. Aber der Fuss legt sich auf so eine passive Stütze oder Einlage und denkt: «Super, da muss ich nicht selbst arbeiten.» Er bleibt oder wird hierdurch inaktiv und die Muskeln werden nicht stärker. Dabei sollte man sie entsprechend trainieren.

Das heisst …?
Wenn ich 40 Minuten laufen gehe und keine grosse Fussdeformität habe, sollte ich versuchen, das mit einem Normalschuh hinzukriegen. Im Alltag brauche ich bei kurzen Einkäufen auch nicht unbedingt eine Einlage. Wenn ich dagegen zehn Stunden in Paris shoppen gehe oder einen Marathon laufe, brauche ich schon irgendwann einen Support, da die Muskeln ermüden. Wenn ich schon ohne eine Belastung eine relevante Fussdeformität habe, sollte der Arzt oder die Ärztin entscheiden, ob bzw. ab wann ich eine Einlage oder eine Pronationsstütze tragen sollte.

Nicht nur der Fuss wird müde, das Material irgendwann auch. Werden meine ausgelatschten Lieblingsschuhe beim Sport zum Problem und brauche ich als Gelegenheitsjogger verschiedene Modelle?
Der richtige Schuh ist schon enorm wichtig. In diesem Fall würde ich sagen: Lieber ein gut passendes Paar, das rechtzeitig ersetzt wird, als Experimente. Und es ist nicht so, dass der teurere Schuh zwingend der bessere ist.

Wovon sollte man die Finger lassen?
Mit Sneakers muss man aufpassen. Das sind Modeschuhe, die nicht für den Sport geeignet sind. Von allen grossen Sportartikelherstellern gibt es Modelle, die sich nur bedingt für’s Laufen eignen. Ein Sneaker ist kein Laufschuh, der den Fuss in seiner natürlichen Bewegung führt und einen gewissen Halt im Mittelfussbereich bietet. Aber Laufschuhe sind ohnehin ein Thema für sich, über das man hitzig diskutieren kann.


Eines ist klar: Am besten sind gesunde Füsse. Deshalb soll es im nächsten Schritt darum gehen, wie du ihnen Gutes tun kannst. Ich gehe bei der Physiotherapeutin und Leichtathletin Pascale Gränicher in die Laufschule und lerne bei der Fussgymnastik, das schon kleinste Bewegungen eine grosse Herausforderung sein können.

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Sportwissenschaftler, Hochleistungspapi und Homeofficer im Dienste Ihrer Majestät der Schildkröte.


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