Was Arbeit hinter Gittern bedeutet
14.5.2019
Bilder: Thomas Kunz
Auch hinter Gittern wird von Montag bis Freitag gearbeitet. In der Malerei der Justizvollzugsanstalt Lenzburg werden Holzmöbel, Erbstücke und vor allem Fensterläden auf Vordermann gebracht. Die Gefangenen lernen dadurch teilweise das erste Mal im Leben so etwas wie Struktur kennen.
Ich tausche meinen Pass gegen einen Besucherausweis, mein Handy bleibt in einem Schliessfach. Fotos sind verboten, zumindest für mich. Ich passiere einen Metalldetektor und eine Schleuse, bevor es hinunter in einen Tunnel geht. Die Wände sind aus Beton. An der Decke reihen sich Leuchtstofflampen aneinander und tauchen den Raum in ein grellweisses Licht. Ein riesiges Graffiti – bunte Tiere auf Wanderung – bringt etwas Farbe in den kühlen Gang. Nach ein paar Minuten geht’s über metallene Stufen wieder nach oben und durch eine weisse Tür. Ich stehe in der Malerei der Justizvollzugsanstalt (JVA) Lenzburg.
Zwei Gewerbemeister und zwölf Gefangene arbeiten hier von Montag bis Freitag. Die Männer wirken wie wild durcheinander gewürfelt: von jung bis alt, blond bis dunkelhaarig, gross bis klein. «Fünf verschiedene Nationalitäten sind hier vereint», erklärt mir Gewerbemeister Sandro Tschumi. Die Gefangenen machen alles, vom Ablaugen bis zum Spritzen. Fensterläden sind ihre Spezialität. «Für die meisten Malergeschäfte sind Fensterläden zu wenig lukrativ, in der JVA aber haben wir Zeit dafür», sagt Christoph Hug, Leiter der insgesamt 18 Gewerbe. Neben einer Malerei gibt es unter anderem auch eine Schreinerei, Korberei, Druckerei und Schlosserei. Sie nehmen Einzelaufträge von Privatkunden, vor allem aber Serienaufträge von Firmen entgegen. Eine Ausbildung hat kaum einer der Gefangenen, sie lernen die Arbeitsschritte von der Pike auf. «Jeder ist für einen einzelnen Arbeitsschritt zuständig, den er perfektioniert», so Tschumi.
Zeit im Überfluss
Der erste Schritt ist das Ablaugen, um Farbe und Lacke vom Holz zu trennen. Dafür kommt der Fensterladen bei 50 bis 60 Grad Celsius in ein Natronlaugenbad und bleibt dort rund 30 Minuten. Ein Gefangener in Gummistiefeln, Handschuhen, Schürze und Gesichtsschutz spritzt den Laden danach ab. «Die Lauge ist ätzend und darf nicht mit der Haut in Berührung kommen», sagt Tschumi. Im Anschluss landet der Fensterladen in einem Säurebad, bevor er nochmals sauber abgespritzt wird. Dann muss er erst einmal gut durchtrocknen.
Im quadratischen Trocknungsraum riecht es wie in einer Sauna. Kein Wunder, wenn Wärme auf Holz trifft. Die Läden und anderen Holzfertigkeiten bleiben bis zu zwei Wochen hier drin. «Das ist schonender fürs Holz, als eine schnelle Trocknung. Und wenn wir in der JVA von etwas genug haben, dann ist es Zeit», meint Tschumi. Für die Gefangenen ist die Arbeit nicht nur Verdienstmöglichkeit, sondern auch Beschäftigung. Wer nicht arbeitet, verbringt die Zeit in der Zelle. Für die meisten kein erstrebenswertes Ziel. «Die Arbeit ist schon fast ein Privileg, auch wenn sie grundsätzlich Pflicht ist. Wer sich am Arbeitsplatz nicht einfügen kann, verliert dieses Privileg», klärt mich Hug auf.
Freie Tage haben hier eine andere Bedeutung
Diese Meinung teilt Ali K., der in gut einem Monat entlassen wird und als Spritzer arbeitet. «Ein normales Wochenende mehrheitlich in der Zelle zu verbringen, ist gerade noch in Ordnung. Es ist auch einmal schön, seine Ruhe zu haben und nicht immer über dieselben Themen wie Haftentlassung zu reden.» Wenn aber noch Feiertage hinzukommen, werde es schwierig. «Dann schlagen Langeweile und Einsamkeit zu.» Das, obwohl wöchentliche Zellenbesuche möglich sind. «Wir können einen Antrag stellen, um samstags zwischen 16.30 und 20 Uhr zu viert in einer Zelle Zeit zu verbringen», so Ali K. Dann wird entweder gekocht oder ferngeschaut. Übrigens beides kostenpflichtige Aktivitäten. «Von unserem Lohn müssen wir das Gas zum Kochen und auch die TV-Miete bezahlen», erzählt mir Ali K.
Nicht nur mit anderen zusammen kocht Ali K. gerne, sondern auch alleine. Obwohl es dreimal täglich etwas zu essen gibt. «Ich bin nicht der grösste Fan des Znachts, muss ich zugeben. Café complet ist mir nach der Arbeit einfach zu wenig.» Deshalb kocht er jeden zweiten Tag mit einem Gaskocher in seiner Zelle. Zutaten, die er nicht im hausinternen Kiosk bekommt, bestellt er über den Stadteinkauf. «Die Gefangenen machen eine Einkaufsliste mit den gewünschten Produkten, die dann von Mitarbeitenden bestellt und abgepackt werden», erklärt Tschumi. Dafür gibt Ali K. das meiste seines verdienten Geldes aus, auf dem zweiten Platz folgen Zigaretten. Die kann er am kleinen Kiosk innerhalb der Gefängnismauern mit Bargeld kaufen. 40 Prozent des Lohnes werden so ausbezahlt. 25 Prozent kommen auf ein Freikonto, wovon zum Beispiel TV-Miete und Telefongespräche bezahlt werden. Die restlichen 35 Prozent kommen auf ein Sperrkonto. Dieses Geld wird dem Gefangenen nach Haftentlassung als Startkapital übergeben.
Den Start in der Malerei machen die meisten Gefangenen beim Schleifen. Diese Arbeit erfordert am wenigsten Geschick und Können. «Sie ist aber auch am dreckigsten und bietet die geringsten Verdienstmöglichkeiten», sagt Tschumi. Denn hier in der JVA Lenzburg setzt sich der Lohn aus dem Verhalten am Arbeitsplatz und der Schwierigkeit der Arbeit zusammen. Wer seine Arbeit gut macht, steigt früher oder später auf. «Das kommt unter anderem darauf an, wie viele Plätze durch Entlassungen oder Gewerbewechsel frei werden», so Tschumi.
Neues Leben in der Türkei
Ali K. hat sich seine Sporen abverdient. Spritzen gilt als die anspruchsvollste Aufgabe in der Malerei und bekommt daher die höchste Arbeitsplatzbewertung. Auch die Qualität seiner Arbeit und die Motivation werden von Meister Tschumi hoch eingestuft: «Ali K. will seine Arbeit gut machen, er hat hier sogar eine Praxisausbildung absolviert.» Diese ist nicht mit einer vollwertigen Lehre zu vergleichen, zeigt aber, dass sich Ali K. praktisches und theoretisches Wissen übers Spritzen angeeignet hat.
«Alle zwei Wochen hat mich ein Berufsschullehrer für ein paar Stunden unterrichtet.» Dieses Wissen würde Ali K. gerne nach der Haft weiter anwenden. Ob ihm das gelingt, ist fraglich. Er wird direkt nach seiner Entlassung in die Türkei ausgeschafft. «Seit ich zehn Jahre alt bin, lebe ich in der Schweiz. Meine ganze Familie wohnt hier. Zur Türkei habe ich keinen Bezug», sagt er. In diesen Worten schwingen keinerlei Wut oder Resignation mit, was mich überrascht. «Klar wird es schwer, aber ich lasse mich davon nicht unterkriegen. Pessimismus hat selten jemandem geholfen.» Wenn’s als Spritzer nichts wird, dann würde er gerne im Tourismus arbeiten.
Zu dieser Einstellung hat ihm auch Tschumi verholfen. «Mein Verhältnis zum Meister ist sehr gut. Er ist immer da, wenn jemand Unterstützung oder neue Herausforderungen braucht», sagt Ali K. Unvoreingenommen gegenüber den Gefangenen zu sein, hat für Tschumi oberste Priorität. «Jeder hier wurde schon verurteilt, das muss ich nicht auch noch tun. Ich sehe den Menschen, nicht den Kriminellen.» Er habe sich bewusst dafür entschieden, seinen Beruf als Maler mit etwas Sozialem zu verbinden und deshalb berufsbegleitend eine Ausbildung zum Vollzugsangestellten absolviert. Seit elf Jahren ist er nun hier in Lenzburg und macht seine Arbeit gerne.
Für viele Gefangene ist das Wort Ausbildung ein Fremdwort. «Die meisten hier haben nie eine Ausbildung abgeschlossen und lernen das erste Mal im Leben eine Art Struktur kennen», sagt Hug. Auch in der knappen Freizeit müssen sie sich an Regeln halten. «Wer sich zum Beispiel fürs Fitnesstraining anmeldet, muss auch regelmässig gehen, sonst ist er raus.» So soll ihnen beigebracht werden, dass Abmachungen verbindlich sind.
Während wir langsam zur nächsten Station weitergehen, fällt mir auf, wie ruhig es hier in der Malerei ist. Keiner redet, niemand lacht. «Das ist nur so, weil Sie hier sind. Sonst werden dauernd Sprüche gerissen», sagt Tschumi und schmunzelt. Dann erklärt er mir die Arbeit der Spachtler. «Jeder Makel muss ausgemerzt werden.» Ein Fensterladen liegt auf zwei Klappböckli und wird von einem Gefangenen mit beiger Spachtelmasse bearbeitet. «Danach wird er noch einmal von Hand geschliffen, damit keine Unebenheiten zurückbleiben, bevor gespritzt wird», so Tschumi.
Kunst an Fleischerhaken
Fürs Spritzen werden die Läden an eine Art Fleischerhaken gehängt und per Schienensystem in die Kabine gezogen. Dort ist Ali K. schon an der Arbeit. Die Füsse eines Bänklis werden von ihm silbern lackiert. Während er in Schutzkleidung zielgerichtet seine Arbeit erledigt, stehe ich in normaler Kleidung in der Spritzkabine und habe das Gefühl, etwas benommen zu werden von den Dämpfen. Auch nebenan im Materiallager riecht es nach Lacken und Farbe. «Du gewöhnst dich dran. Mehr als das, irgendwann brauchst du die Dämpfe fast», scherzt Tschumi.
Nachdem die Bankfüsse zweimal gespritzt wurden, werden sie wieder über die Schienen in den letzten Trocknungsraum gebracht. Dort hängen auch lauter Fensterläden in den unterschiedlichsten Farben. «Das erinnert mich an die Designmesse in Mailand. Dort gab es Installationen, die sehr ähnlich aufgebaut waren», sagt Fotograf Thomas, der mich begleitet. Eine Abwechslung zu der ansonsten ziemlich steril anmutenden Atmosphäre der Malerei: weisse Wände, weisse Arbeitskleidung und weisses Licht. Jeden Montag oder Dienstag wird der Trocknungsraum geleert und die ganze Ware in den Auslieferungsraum gebracht. Dort steht auch ein altes Buffet. «Ein Erbstück eines Privatkunden, das wir restauriert haben», so Tschumi. Auch solche Sachen macht die Malerei der JVA Lenzburg, auch wenn dann das eher «Chefsache» ist. «So eine grosse Aufgabe will ich den meisten Gefangenen nicht auftragen. Zu gross ist die Gefahr, dass etwas schief geht.»
In dem Moment kommt der zweite Gewerbemeister zu uns in den Raum. Ein kleines Kästchen in der Ecke werde doch nicht abgeholt. «Die Frau konnte sich nicht überwinden, zur Rampe zu fahren, um ihre Ware entgegenzunehmen», erzählt er. In diesem Moment wird mir erst wieder bewusst, wo ich mich gerade befinde. So normal jeder Arbeitsschritt wirkt, jedes Gespräch klingt, die Mitarbeiter dieser Malerei gehen nach Feierabend zurück in ihre Zelle und nicht auf ein Bier mit Freunden. Von diesem Szenario trennen sie eine Mauer, zwei Zäune und dicke Eisenstäbe vor den Fenstern.
Meinen Horizont erweitern: So einfach lässt sich mein Leben zusammenfassen. Ich liebe es, neue Menschen, Gedanken und Lebenswelten kennenzulernen,. Journalistische Abenteuer lauern überall; ob beim Reisen, Lesen, Kochen, Filme schauen oder Heimwerken.
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