Hintergrund

Süsse Sucht, eine Stadt trinkt Coca-Cola statt Wasser

«Süsse Sucht» führt in einen Ort, an dem das Selbstverständliche fehlt: verlässliches Trinkwasser. Was bleibt, sind Flaschen süssen Gifts aus dem Kühlschrank. Eine klare, unaufgeregte Erzählung über Abhängigkeit, Verantwortung – und die Frage, wem das Geschäft mit dem Durst nützt.

«Irgendeinen Grund für meinen Tod muss es ja geben», sagte der Vater oft. Ein mexikanisches Sprichwort.

Diese Geschichte handelt von einer Region im Süden Mexikos, in der mehr Coca-Cola getrunken wird als überall sonst auf der Welt. In der eine Flasche des zucker- und koffeinhaltigen Getränks im Alltag leichter zu bekommen ist als ein Schluck Trinkwasser. In der Coca-Cola durch aggressives Marketing so omnipräsent geworden ist, dass das Getränk sogar Bestandteil religiöser Rituale geworden ist.

Um die 160 Liter Softdrinks trinkt jeder Mexikaner im Schnitt pro Jahr. Das ist Welt­rekord und übertrifft den Konsum in den USA um rund 40 %.
«Wir wissen, wie wir Coca-Cola loswerden», soll Subcomandante Marcos einmal gesagt haben. «Wir werden sie bis auf die letzte Flasche austrinken.»

Dafür verantwortlich war allen voran Vicente Fox, der 1964 als Vertriebsmann bei Coca-Cola angefangen hatte. Das Getränk, das er anfangs auch selbst auslieferte, war für ihn ein Aufputschmittel im Kampf gegen den damals noch mächtigeren Rivalen Pepsi.

Zum Frühstück trank Fox seine erste von bis zu zwölf Flaschen Cola am Tag, mit einem rohen Ei darin.
Im Alltag müssen die Menschen täglich eine Frage beantworten: Kaufen sie sich für 16–19 Pesos eine Literflasche Mineralwasser, um ihren Durst zu stillen? Oder zum gleichen Preis eine etwas kleinere Coke?

Als Amelia García klarwurde, dass sie auf fettiges Essen und Cola verzichten sollte, musste sie weinen. Dann nahm sie ihr Schicksal in die Hand und wurde Teil der Diabetiker-Gruppe, ein Vierteljahrhundert ist das mittlerweile her. Der erste Teil eines solchen Treffens besteht aus Vorträgen.

Der Arzt José Maria Gómez malt Körperzellen auf eine ­Tafel,um den Stoffwechsel zu erklären, und fragt die Gruppe: «Womit sind die Zellen untereinander verbunden?», «Kaugummi», sagt eine Frau und lacht. «Falsch», sagt der Arzt: «Silikon natürlich» – alle lachen. Dann fragt er: «Welche Lebensmittel sind mit Blick auf Diabetes schlecht für uns?» Die Frauen antworten fast im Chor: «La Coca.»
Innerhalb dieser schwer zu fassenden Liturgieder Rituale entdecken wir Coca-Cola-Flaschen. Das Getränk wird auf dem Boden um die brennenden Kerzen herum ausgeschüttet,aber auch in Bechern an alle Teilnehmer eines Rituals ausgeschenkt. Was hat es hier zu suchen?

Der Kirchenaufseher Agustín de la Cruz versucht es uns zu erklären. Er trägt einen Poncho aus Schafsfell und hat schlechte Zähne, wie viele Leute in Chamula. De la Cruz liebt Coca-Cola, früher trank er zehn Flaschen am Tag. Dann bekam er Magenschmerzen, musste sich oft übergeben. Im Gegensatz zu seiner Frau hat er aber nie unter Diabetes-Symptomen gelitten.

«Coca-Cola ist für uns nicht heilig», sagt er. «Auch die Geschichte mit dem Rülpsen ist Quatsch.»

Über die Kirche gibt es unzählige Berichte im Netz. Reisejournalisten und Blogger schrieben wiederholt, dass die Indigenen Cola trinken würden, um über Rülpser böse Geister aus dem Körper zu vertreiben. «Manchmal erzählen das die auswärtigen Touristenführer, um ihre Geschichten interessanter zu machen. Und die Touristen glauben alles», sagt de la Cruz.

«Die Leute wollen einfach Coca-Cola trinken», sagt auch Jaime Page, der glaubt, dass Sheinbaum nicht viel verändern wird. In den Sätzen, die er in die Kamera seines Computers spricht, schwingt bittere Wut mit:

«Manchmal denke ich, dass wir es mit einerethnozidalen Politik zu tun haben. Es ist offenbar besser,wenn die Indigenen sterben.»

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