Coco Cartoon / Film Verleih Gruppe
Kritik

«Ne Zha 2»: Ein chinesischer Koloss rollt an

Luca Fontana
20.6.2025

Ein Film aus China bricht sämtliche Rekorde, schlägt «Avengers» und «Star Wars» an den Kinokassen – und du hast noch nie davon gehört? Willkommen im neuen Zeitalter des Kinos.

Keine Sorge: Die folgende Filmkritik enthält keine Spoiler. Ich verrate dir nicht mehr, als ohnehin schon bekannt und in den Trailern zu sehen ist. «Ne Zha 2» läuft ab dem 26. Juni im Kino.

Es ist eines dieser Kinoerlebnisse, bei denen du dich fragst: Wie zur Hölle konnte ich so lange nichts davon mitbekommen? Denn «Ne Zha 2» ist in China längst ein Gigant. Über zwei Milliarden Dollar hat der Film dort eingespielt – und nur dort. Seit Februar gilt er als erfolgreichster Animationsfilm der Geschichte. Seit März sogar als fünfterfolgreichster Film aller Zeiten.

Das ist ein kulturelles Erdbeben. Nur halt eines, das im Westen kaum jemand mitbekommen hat. Jetzt kommt der Film plötzlich auch in die Schweiz. Ohne PR-Kampagne. Ohne bekannte Figuren. Ohne Hype. Nur mit einer Frage im Gepäck: Kann der wirklich so verflucht gut sein?

Moment – Wer ist eigentlich Ne Zha?

Um «Ne Zha 2» zu verstehen, muss man seinen Protagonisten kennen. Und das ist gar nicht so einfach. Zumindest für ein westliches Publikum. Denn Ne Zha ist nicht einfach irgendeine Animationsfigur. Er ist ein rebellischer Volksheld, eine Sagengestalt, in China so bekannt wie Wilhelm Tell oder Schellenursli in der Schweiz.

Was hat es mit Ne Zha, diesem kleinen, rebellischen Buben auf sich?
Was hat es mit Ne Zha, diesem kleinen, rebellischen Buben auf sich?
Quelle: Coco Cartoon / Film Verleih Gruppe

Die Wurzeln seiner Geschichte reichen tief in die taoistische Mythologie. In der modernen Interpretation des ersten Films, «Ne Zha» (2019), wird er als Kind geboren, das eigentlich mit den göttlichen Kräften der Astralperle gesegnet sein sollte – einer kosmischen Energiequelle, die für Reinheit und Hoffnung steht. Doch durch eine Intrige wird die Perle vertauscht. Ne Zha kommt stattdessen mit der Dämonenkapsel zur Welt, einer zerstörerischen Kraft, die sich kaum kontrollieren lässt.

Von Anfang an gilt er darum als Gefahr, die von den Menschen für ein Monster gehalten wird, obwohl er eigentlich Gutes tut – wenn auch mit reichlich Kollateralschaden und einer ordentlichen Portion Chaos. Doch seine Eltern, vor allem seine Mutter und sein etwas trotteliger, aber herzensguter Mentor, versuchen, ihm zu helfen, auf dem rechten Weg zu bleiben.

Ne Zha freundet sich im ersten Film mit Ao Bing, dem Sohn des Drachenkönigs, an, obwohl sie eigentlich Feinde wären.
Ne Zha freundet sich im ersten Film mit Ao Bing, dem Sohn des Drachenkönigs, an, obwohl sie eigentlich Feinde wären.
Quelle: Coco Cartoon / Film Verleih Gruppe

Sein Gegenspieler ist Ao Bing, Sohn des Drachenkönigs. Auch er ist ein Kind der Intrigen. Denn er wurde mit genau jener Astralperle geboren, die eigentlich für Ne Zha bestimmt war. Ao Bing ist darum sowas wie Ne Zhas Spiegelbild: höflich, elegant und diszipliniert. Aber wie Ne Zha wird auch er manipuliert und wächst mit einem tiefen Groll gegen die Götter auf, die den Drachen unrecht getan haben.

Am Ende erkennen die beiden, dass sie nicht Feinde sind, sondern Verbündete im selben Kampf. In einem letzten, opferreichen Duell retten sie die Welt – und sterben. Ihre Körper vergehen, aber ihre Seelen überleben dank Ne Zhas Mentor. Jetzt geht’s darum, ihnen einen neuen Körper zu verschaffen, um ihr Schicksal endlich selbst zu bestimmen. Und während sie sich auf dieser Quest befinden, geraten sie in eine noch viel grössere Verschwörung, die einen wahrhaft göttlichen Krieg auslösen könnte.

Genau hier setzt Teil 2 an.

Ein Orkan aus Pixeln und Pathos

«Ne Zha 2» beginnt wie viele westliche Blockbuster im Stil von «Despicable Me» oder den typischen Disney-Animationsfilmen: bunt, überdreht, mit einem Hauch zu viel Slapstick. Es gibt Furz-Witze, Pipi-Witze, sprechende Waffen und einen Mentor, der manchmal wie Jack Black im Zuckerrausch wirkt.

Und trotzdem – oder gerade deshalb – sieht das alles verdammt schick aus. Vom Set-Design über die Figuren bis zu ihren Kostümen: Die Animation ist berauschend. Detailverliebt, farbenprächtig und kraftvoll. Coco Cartoon, das Animationsstudio, muss sich hier kein bisschen vor seiner westlichen Konkurrenz verstecken. Im Gegenteil.

Das sieht man schon im Trailer.

Keine Frage: Visuell ist der Film eine Naturgewalt, die ihresgleichen sucht. Über 4000 Animationskünstlerinnen und -künstler sollen gemäss Pressetext daran gearbeitet haben. Eine Zahl, die so absurd klingt, dass sie fast schon Teil des Spektakels wird. Besonders im letzten Drittel. Denn was da passiert, ist kein einfaches Finale mehr. Es ist ein Orkan: Fast eine ganze Stunde lang verwandelt sich «Ne Zha 2» in ein ausuferndes Epos.

In seiner Grandeur erinnert es gar an das Finale von «Avengers: Endgame» oder «Lord of the Rings». Locker. Nur ohne Rücksicht auf westliche Erzählkonventionen. Stattdessen eskaliert die Schlacht immer weiter, in bester Anime-Manier. Mehrmals dachte ich: «Okay, das ist jetzt der Höhepunkt.» Falsch gedacht. Noch eine Eskalationsstufe. Und noch eine.

Und noch eine.

Ja, wo will man da als erstes hinschauen? «Ne Zha 2» ist eine audiovisuelle Wucht.
Ja, wo will man da als erstes hinschauen? «Ne Zha 2» ist eine audiovisuelle Wucht.
Quelle: Coco Cartoon / Film Verleih Gruppe

Irgendwann hatte ich das Gefühl, die Leinwand explodiere gleich. Da waren Tausende von Kriegerinnen, Dämonen, Monster, Drachen, Götter, fliegende Schwerter, Dimensionstore, Zeitlupen, Magie, Chaos – und mittendrin Ne Zha und ganz schön viel Pathos. Teilweise fühlte ich mich mindestens so überfordert wie überwältigt. Aber … auch genauso begeistert.

Denn «Ne Zha 2» ist nicht nur ein Animationsfilm, der alle paar Sekunden neue Welten, Figuren, Mythologien oder Naturgesetze neu definiert – er ist ein animiertes Schlachtgemälde, das sich mehr traut als so mancher Live-Action-Blockbuster. Und das nicht nur in der Action, sondern auch in der Tonalität: Der Film ist ab 12 – und meint das ernst. Hier brennen Familien. Sterben Kinder. Spritzt Blut, wenn Armeen wie Bienenschwärme aufeinander prallen.

Sowas habe ich schon lange nicht mehr im Kino gesehen.

Ein Kino-Gigant, den der Westen ignoriert

Kaum zu fassen, dass hierzulande kaum jemand den Film kennt. Aber während «Ne Zha 2» in China die Kinos sprengt und selbst «Dune: Part Two» oder «Interstellar» in den IMAX-Charts hinter sich lässt, läuft er bei uns ohne Hype, wenig Marketing und kaum Kontext. Als käme da irgendein bunter Exot aus dem Osten.

Dabei müsste man eigentlich sagen: aus dem Epizentrum eines ganz anderen Blockbuster-Kinos.

  • Hintergrund

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Denn das ist vielleicht die grösste Überraschung an «Ne Zha 2»: Nicht, dass er gut ist. Sondern wie souverän er die Sprache des Spektakels spricht, ohne Pixar oder Marvel zu kopieren. Der Film will stattdessen sein eigenes Ding sein, mit eigenen Helden, eigenen Mythen und einer ganz und gar eigenen Tonalität, die dem westlichen Mainstream längst entwöhnt ist: pathetisch, poetisch, überbordend und ungeniert melodramatisch.

Der Lotus wächst aus schlammigem Wasser, bleibt aber makellos rein – ein starkes Symbol für Reinheit des Herzens und Geistes inmitten einer korrupten oder schmutzigen Welt. Deshalb gilt er in China als Sinnbild für moralische Integrität und Tugendhaftigkeit.
Der Lotus wächst aus schlammigem Wasser, bleibt aber makellos rein – ein starkes Symbol für Reinheit des Herzens und Geistes inmitten einer korrupten oder schmutzigen Welt. Deshalb gilt er in China als Sinnbild für moralische Integrität und Tugendhaftigkeit.
Quelle: Coco Cartoon / Film Verleih Gruppe

Dabei wird schnell klar, dass «Ne Zha 2» nicht für Festivals oder Feuilletons gemacht ist. Trotzdem funktioniert der Film. Und das nicht bloss als Nischenprodukt, sondern als Blockbuster, der die Regeln neu definiert – ganz ohne Hollywood und Europa, wenn’s sein muss. Denn wer braucht schon Oscar-Buzz oder Cannes, wenn er auf einen Markt zählen kann, der über eine Milliarde Kinogängerinnen und Kinogänger zählt und ganz alleine sämtliche weltweit aufgestellten Rekorde bricht?

Eben. Uns bleibt da nur eine Erkenntnis: Wir sind längst nicht mehr das Zentrum der Kinowelt.

Fazit

Der Westen schaut weg – und verpasst Grosses

«Ne Zha 2» ist kein perfekter Film. Aber ein wuchtiger. Einer, der sich traut, gross zu denken und noch grösser zu fühlen. Der seine eigene Mythologie atmet, seine eigene Bildsprache spricht – und dabei ein Kino sichtbar macht, das wir im Westen oft übersehen. Nicht, weil es uns nichts zu sagen hätte. Wir übersehen es, weil es nicht unser eigenes ist. Weil es nicht aus Hollywood kommt. Genau da liegt das Problem.

Dabei zeigt dieser Film, was möglich ist, wenn man Spektakel nicht bloss um seiner selbst zelebriert, sondern als emotionales Ereignis. Wenn Pathos keine Schwäche ist, sondern Haltung. Und wenn man sich nicht für die nächste Oscar-Nominierung inszeniert – sondern für ein Publikum, das Kino noch als kollektives Erlebnis begreift.

Vielleicht müssen wir erst lernen, solche Filme anders zu sehen. Oder besser: anders sehen zu wollen. Gerade hier im Westen. Denn wenn das hier die Zukunft des Blockbuster-Kinos ist, dann lohnt es sich, hinzuschauen. Dringend.

Titelbild: Coco Cartoon / Film Verleih Gruppe

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Abenteuer in der Natur zu erleben und mit Sport an meine Grenzen zu gehen, bis der eigene Puls zum Beat wird — das ist meine Komfortzone. Zum Ausgleich geniesse ich auch die ruhigen Momente mit einem guten Buch über gefährliche Intrigen und finstere Königsmörder. Manchmal schwärme ich für Filmmusik, minutenlang. Hängt wohl mit meiner ausgeprägten Leidenschaft fürs Kino zusammen. Was ich immer schon sagen wollte: «Ich bin Groot.» 


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