Hintergrund

Nieder mit Hollywood: Chinas langer Weg zur Kino-Weltmacht

Luca Fontana
29.10.2020

Chinas Kinoindustrie überholt Hollywood. Branchenexperten sind besorgt: Hollywood könnte sich nun noch stärker dem Willen einer menschenrechteverletzenden Regierung beugen, die nicht mal die eigene ist. Wie hat es so weit kommen können?

Es ist amtlich: China hat offiziell den grössten Kinomarkt der Welt. Zum ersten Mal. Das sagen aktuelle Box-Office-Zahlen aus.

Die Zahlen stammen von Artisan Gateway, eine der einflussreichsten Agenturen der Film- und Kinoindustrie Chinas. Konkret: 1,99 Milliarden Dollar haben chinesische Kinos 2020 eingespielt. Nordamerika steht bei 1,94 Milliarden Dollar. Der Abstand zwischen den Zahlen dürfte sich bis Ende Jahr stark vergrössern.

Keine Überraschung. Zumindest nicht für Branchenexperten. Dass das bevölkerungsreichste Land der Welt eines Tages den grössten Kinomarkt der Welt haben würde, sei nur eine Frage der Zeit gewesen. So in etwa der Konsens.

Aber: Es brauchte eine Pandemie, um den Wechsel an der Spitze zu begünstigen.

Hollywoods von der Pandemie geplagte Buchhaltung

Hollywood kämpft. Auch die Kinoindustrie. Gerade in Nordamerika, dessen erneut steigende Infektionszahlen immer mehr Kinos ihre Pforten schliessen lässt, kaum haben sie sie vor etwas mehr als einem Monat geöffnet.

Dass Hollywood selbst viele seiner wichtigsten Blockbuster aufs nächste Jahr verschiebt, hilft nicht. Etwa «James Bond: No Time to Die» oder «Dune». Und «Black Widow». Aus Sicht der Buchhalter Hollywoods aber zwingend notwendige Verschiebungen. Wie sonst sollen Multi-Millionen-Grossproduktionen ihre Kosten auch nur ansatzweise einspielen? .

Dass das mit kaum gefüllten Sälen nicht geht, hat «Tenet» gezeigt. Christopher Nolans Sci-Fi-Spionage-Clusterfuck – und sowas wie ein Experiment, ob sich in einer von der Pandemie geprägten Welt ein Kinopublikum finden lässt. Zumindest ausserhalb Chinas.

Für Hollywood gibt’s daraus nur ein logisches Learning: Verschiebe, was du heute kannst besorgen, auf morgen. Um jeden Preis. Und wenn's die Kinobranche selbst ist.

Der Zerfall des US-Kinos

Hollywoods von der Pandemie aufgezwungene Strategie lässt die US-Kinoindustrie bluten. John Fithian, Geschäftsführer der National Association of Theatre Owners, wählt seine Worte im Interview mit der New York Times bewusst.

Wenn die Studios weiterhin alle ihre Filme verschieben, sind bald keine Kinos mehr da, um sie zu zeigen.
John Fithian, New York Times, 5. Oktober 2020

Regal Cinemas, die zweitgrösste Kinokette Amerikas, gibt indes an, 663 Säle in den USA und in Grossbritannien temporär zu schliessen. Pandemiebedingt. Und Cinemark, nach AMC und Regal Cinemas die drittgrösste Kinokette, würde zwar noch keine Säle schliessen, aber nur noch einen begrenzten Betrieb von einigen Stunden pro Tag und wenigen Tagen pro Woche in Betracht ziehen.

Wir brauchen Hilfe. Vom Staat. Vom Kongress. Entweder das, oder wir dürfen wieder unsere Kinosäle öffnen und Hollywood bringt seine Filme zurück. Wenn nichts von beidem passiert, werden die Kinobetriebe bald untergehen.
John Fithian, New York Times, 5. Oktober 2020

Fithians Hilferuf stösst im Büro des Gouverneurs Andrew M. Cuomo aus New York auf wenig Gehör. Dass es in den vergangenen Monaten keine Hinweise auf ein erhöhtes Übertragungsrisiko des Virus in Kinos gab, jedenfalls keine im gleichen Masse wie in Bar- oder Club-Innenräumen, sei kein Argument.

Es ist ein düsteres Bild, das sich da für Kinobetreiber abzeichnet.

Wird China zu Hollywoods wichtigstem Markt?

Auch darum wird in Filmkreisen davon gesprochen, dass China bald schon Hollywoods wichtigster Markt sei. Dazu das dank Corona umso mehr boomende Streaming-Geschäft. Wer braucht denn da schon das amerikanische Kino?

Während die Welt sich mit der Pandemie rumschlägt, blüht die Kinoindustrie Chinas weiterhin auf. Übernimmt sogar die Krone. Drücken wir’s unpolitisch aus: Das Reich der Mitte hat die Pandemie wirksamer eingedämmt als andere Länder. Das ist Fakt. Und für die heimische Film- und Kinobranche ein Segen.

Denn Zehntausende Kinosäle laufen dort bereits wieder mit 75 Prozent der üblichen Kapazität, trotz Schutzkonzept. Ein guter Wert. Gerade im Vergleich zu Nordamerika, wo die regionalen Schutzkonzepte eine durchschnittliche maximale Sitzplatzkapazität von 20 bis 40 Prozent erlauben. Dazu das chinesische Publikum, das keine allzu grossen Corona-Bedenken hat und scharenweise in die Kinos strömt.

«Bad Boys For Life», der abgelöste Spitzenreiter, startete im Januar, vor Lockdown, und kommt aktuell auf 427 Millionen Dollar. Viel mehr werden’s auch nicht werden.

Es braucht keinen Abschluss in Betriebsökonomie, um die Indizien zu deuten: China ist nicht nur drauf und dran, der wichtigste Kinomarkt für Hollywoods Filmindustrie zu werden. China könnte schon bald der wichtigste Kinomarkt der Welt sein. Wenn er das Pandemie-bedingt nicht schon ist.

Genau das macht den Experten Angst.

China: From Zero to Hero – in nicht mal 10 Jahren

Trotz Pandemie: Neu ist der «China übernimmt nun auch den Kinomarkt»-Trend nicht. Das belegen Zahlen, die den Umsatz verkaufter Kinotickets in verschiedenen Ländern dokumentieren. Den Gesamtumsatz pro Jahr, sozusagen.

Corona hin oder her.

Eine Stärke der Kinobranche Chinas könnte wohl darin liegen, dass sie Konkurrenz wie Netflix, Amazon Prime oder Disney+ nicht kennt. Wegen Geoblocking: Alle Streamingdienste schliessen Lizenzvereinbarungen mit den Content-Herstellern ab, und basierend auf diesen Vereinbarungen können sie Inhalte nur in Ländern streamen, in denen sie eine aktive Lizenz haben.

Für Branchenexperten steht darum fest: Hollywood ist China-abhängig. Schon lange. Und jetzt, durch die Pandemie, die den heimischen Markt Hollywoods dahinrafft, umso mehr.

Genau das ist der Punkt.

Die neue Realität: Hollywood lässt die Hosen runter

Beispiele, die keine Ausnahmen sind. Mehr die Regel, vor allem bei Grossproduktionen. Grossproduktionen, die ohne den chinesischen Markt, den es vor zehn Jahren noch gar nicht gab, blutige finanzielle Löcher in die Buchhaltungen Hollywoods gerissen hätten.

Eine Zensur, die auf Menschenrechte, Rede- und Pressefreiheit pfeift.

Auch abseits von politischen Themen kennt die Zensurstelle Chinas keine Grenzen, egal wie absurd. «James Bond: Skyfall» wurde etwa erst dann in China gezeigt, als Hinweise auf Prostitution in Macau aus dem Film und chinesische Polizeigewalt im Untertitel gestrichen worden sind. Polizeigewalt gibt’s ja nicht in China. Oder Hong Kong.

Oder «Mission Impossible: III». Da wurde Tom Cruises Renn-Szene durch Shanghai geschnitten, weil die an Wäscheleinen trocknenden Kleider ein schlechtes Licht aufs Land hätten werfen können. Wer hängt denn seine Kleider schon zum Trocknen auf? Nur Barbaren. Und Disneys Familienfilm «Christopher Robin» wurde sogar ganz verboten, weil sich im Internet ein paar Leute drüber lustig gemacht haben, dass Winnie Puuh wie China-Präsident Xi Jinping aussehe.

Und Hollywood? Dort versucht man gar nicht erst, sich dem Zensur-Gebaren der Kommunistischen Partei Chinas zu widersetzen. Im Gegenteil. Zu viel Geld gibt es im Land der Morgenröte zu verdienen.

Eben. China.

Diese Berichte erzählen von über einer Million Menschen, die zum Zwecke der «Umerziehung» muslimischer Minderheiten festgehalten wurden. Womöglich immer noch werden. Gegen ihren Willen. An der Tagesordnung: Zwangssterilisierung, Abtreibung, Geburtenkontrolle, Folter und politische Indoktrinierung. Alles, so eine regionale Kampagne, um «Boden für Züchtigung zu schaffen und die Verbreitung des religiösen Extremismus auszurotten».

China hat derweil jegliche Berichterstattung über den Film verbieten lassen. Kurzerhand. Das Volk soll so wenig wie möglich von anti-humanitären Züchtigungslagern im eigenen Lande mitbekommen.

So wird das geregelt.

Die Ironie am Ganzen: Hollywood hat sich das selber eingebrockt.

Hollywood erschafft sein eigenes Monster

Das Ziel: Den Markteintritt Hollywoods in China zu vereinfachen. Aus Sicht der Studios, um das Potenzial an Ticketverkäufen auszuschöpfen. Aus Sicht der Regierung womöglich, um seinen kulturellen Einfluss auf China zu erhöhen. Wenn die Menschen in China genügend oft amerikanische Filme mit amerikanischen Produkten sehen, dann werden sie sie vielleicht auch kaufen wollen.

Der Plan geht auf. China lockert seine Regulierungen. Ein wenig. Und die grossen Studios dürfen ihre Filme in China zeigen. Mit ein bisschen Zensur hier und ein paar finanzielle Unterstützungen durch Drehs in China da.

Tatsächlich erfreuen Blockbuster wie «Iron Man 3», «Fast & Furious» oder «Independence Day» das chinesische Volk so sehr, dass die Nachfrage nach neuen Kinos steigt. Innerhalb wenigen Jahren entstehen Tausende Kinos, Multiplex-Ketten und gar IMAX-Säle im ganzen Land. Die chinesische Kinoindustrie boomt.

Das Erste, was Hollywood nicht bedacht hat: Der Boom hilft auch der chinesischen Filmindustrie. Mehr Kinosäle bedeuten nämlich mehr Einnahmen, die direkt in heimische Filmproduktionen investiert werden. In Produktionen wie «The Wandering Earth» zum Beispiel, den ersten grossen, chinesisch produzierten Live-Action-Sci-Fi-Epos. Ein Meilenstein der Filmindustrie Chinas.

Und ja, der Film ist auf Netflix.

Zum ersten Mal hat Hollywood eine ernstzunehmende Konkurrenz.

Denn das chinesische Publikum hat sich an Amerikas Gedöns offenbar sattgesehen. Es bevorzugt heimische Produktionen und heimische Schauspieler, mit denen es sich identifizieren kann. Produktionen, die die Werte und Propaganda der chinesischen Regierung vertreten, finanziert von den Einnahmen einstiger US-Blockbuster. Du erkennst die Ironie, oder?

Genau das ist das Zweite, das Hollywood nicht bedacht hat. Ja nicht mal ansatzweise in Betracht gezogen hat. Es ist nicht die Regierung Chinas, die Hollywood-Filme aus den eigenen Kinos verbannen wird. Es ist das chinesische Publikum selbst.

Da geht sie flöten, die Verhandlungsmacht.

Was heisst das jetzt alles?

Fassen wir zusammen. China hat Nordamerika als grössten Kinomarkt der Welt abgelöst. Zumindest vorübergehend. Corona sei dank.

Wie gross ist die Wahrscheinlichkeit, dass Nordamerika den Spitzenplatz nach überstandener Pandemie zurückerobert? Gering. Einerseits, weil die Pandemie die Kinobranche nachhaltig schädigen wird. Zumindest ausserhalb Chinas. Andererseits, weil Hollywood selbst die chinesische Filmindustrie gross gemacht hat.

Wohin das wohl führt?

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Abenteuer in der Natur zu erleben und mit Sport an meine Grenzen zu gehen, bis der eigene Puls zum Beat wird — das ist meine Komfortzone. Zum Ausgleich geniesse ich auch die ruhigen Momente mit einem guten Buch über gefährliche Intrigen und finstere Königsmörder. Manchmal schwärme ich für Filmmusik, minutenlang. Hängt wohl mit meiner ausgeprägten Leidenschaft fürs Kino zusammen. Was ich immer schon sagen wollte: «Ich bin Groot.» 


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