
Hintergrund
Schwer zu glauben: Zehenschuhe gelten jetzt als stylish
von Stephanie Vinzens
Hast du auch schon Kleidungs- oder Möbelstücke gekauft, die eigentlich gegen all deine ästhetischen Prinzipien verstossen? Ich habe bei einer Expertin nachgefragt, warum – und wie schnell – wir uns in Sachen Geschmack beeinflussen lassen.
Angeblich ist ja alles Geschmackssache. Was dir gefällt, muss mir nicht zwingend gefallen – und andersherum. Laut einer weiteren Redewendung kann man aber auch «auf den Geschmack kommen». Und das passiert mir verdächtig oft. Zwei Beispiele:
Bin ich beziehungsweise sind wir so einfach manipulierbar? Reicht es, ein Teil nur oft genug von den richtigen Leuten unter die Nase gerieben zu bekommen, bis wir es schliesslich schön finden und selber haben wollen? Mit diesen Fragen habe ich mich an die Trendforscherin Alexandra Viert gewandt. Sie hat Design in der Fachrichtung Trends & Identity an der Zürcher Hochschule der Künste studiert, wo sie heute in der Lehre und Forschung tätig ist.
Alexandra Viert: Ob wir unseren Geschmack anpassen, um dazuzugehören? Auf jeden Fall. Über den Geschmack wollen wir uns aber nicht nur den einen zugehörig fühlen, sondern uns auch klar von anderen abgrenzen. Das tun wir mit der Art und Weise, wie wir uns kleiden oder auch damit, was wir essen, welche Musik wir hören, wo wir Urlaub machen und wie wir wohnen. Das nennt sich in der Theorie Distinktion und beschreibt die mehr oder weniger bewusste Abgrenzung zwischen sozialen Gruppen.
Aus dieser Perspektive habe ich das noch nie betrachtet. Hast du ein konkretes Beispiel?
Alexandra Viert: Nehmen wir den Anti-Trend Normcore. Vor etwa zehn Jahren, als dieser entstanden ist, reagierte er auf das Bedürfnis, sich dem anstrengenden Zwang zur Andersartigkeit zu widersetzen. Rollkragenpullover und verwaschene Jeans à la Steve Jobs, Trekkingsandalen, Fleece-Jacken und Uniqlo-Basics manifestierten eine Sehnsucht nach modischem Mittelmass. Aber selbst wer im Sinne von Normcore gleich sein will, bleibt anders und unterscheidet sich von all jenen, die weiterhin jeder Mode hinterherrennen.
Also passe ich meinen Geschmack so an, dass er einem bestimmten Lifestyle oder Prestige entspricht, den ich repräsentieren möchte?
Ja, aber es macht einen grossen Unterschied, mit wem du über Geschmack sprichst. Eine Biologin oder ein Psychologe würden die Frage vielleicht anders beantworten. Aus Sicht der Trendforschung kann Geschmack als Teil des Lebensstils verstanden werden, der sich eben nicht nur modisch äussert, sondern auch in Dingen wie Ernährung, Kultur, Freizeit oder Medienkonsum. Unser Lebensstil kann von verschiedenen Faktoren beeinflusst werden – von sozialer Herkunft, Alter, Gender oder dem räumlichen Kontext.
Verspüre ich vielleicht mehr Druck, etwas Bestimmtes zu repräsentieren, wenn ich in der Stadt oder einem belebten Quartier wohne?
Gut möglich, denn es gilt: Je enger dein sozialer Kreis ist, desto spezifischer sind die sozialen Erwartungen an dich. Angenommen du wohnst in Zürich Wiedikon, dann wird der soziale Druck dort vermutlich höher sein als irgendwo in den Weiten des Kantons Zürich.
Und ist das ein Neuzeit-Phänomen oder haben wir uns schon immer auf irgendeine Art beeinflussen lassen?
Dass wir uns beeinflussen lassen, ist kein Phänomen der Neuzeit. Die Art und Weise, wie wir uns beeinflussen lassen, hat sich jedoch über die Zeit verändert. In der Mode spricht man von Trickle-up und Trickle-down, mittlerweile auch von Trickle-across. Ein gutes Beispiel, das diese Effekte erklärt, ist der Schottenrock. Vor Jahrhunderten gehörte dieser zur Nationaltracht der schottischen Upperclass. Später sickerte der Schottenrock nach unten, Trickle-down, wo er in den 1970er-Jahren von den Punks zur Strassenmode erklärt wurde. Wieder später brachten Designer:innen wie Vivienne Westwood oder Jean Paul Gaultier den Schottenrock von denselben Punks zur Haute Couture, Trickle-up. Heute, in Zeiten pluralisierter Lebensformen und sozialer Mobilität, geht Mode weniger zwischen Klassen auf und ab, sondern über soziale Medien wie Instagram auch across.
Kann man festmachen, wie viele Personen oder Komponenten es braucht, um einen visuell geprägten Trend zu setzen? Könnte ich zum Beispiel einfach so Einfluss auf meinen Freundeskreis nehmen?
Dazu gibt es in der Trendforschung kein Schema F. Wenn du keine frühe Meinungsführerin bist, stehen deine Chancen relativ schlecht, Trendsetterin zu werden.
Trends sind nichts anderes als Bewegungen in eine Richtung, Veränderungsprozesse, die oft im Kleinen beginnen. Die Aufgabe der Trendforschung liegt darin, diese kleinen Phänomene und schwachen Signale, die auf das Entstehen eines Trends hindeuten, aufzuspüren. Es gibt zwar Konzepte wie die «Three-Times-Rule», laut der sich ein Trend erst dann manifestiert, wenn er in drei verschiedenen Branchen wahrgenommen werden kann. So zum Beispiel der Vegan-Trend, der sowohl die Food- als auch die Beauty- und Modebranche tangiert. Oft sind die Grenzen zwischen Mikro-, Makro- oder Megatrends aber fliessend.
Dann sind all die kurzlebigen Modeerscheinungen, die superschnell wieder von der Bildfläche verschwinden, für euch in der Trendforschung gar nicht relevant?
Im öffentlichen Diskurs, zum Beispiel in sozialen Medien wie Instagram oder LinkedIn, liegen Trends im Trend. Viel zu oft werden dort Trends und Hypes verwechselt. Ein Hype erzeugt innerhalb minimaler Zeit maximale Aufmerksamkeit. So schnell wie ein Hype kommt, so rasch verschwindet er meist wieder von der Bildfläche. Nur manchmal kommt ein Hype, um als Trend zu bleiben – so vielleicht auch deine Cargohosen.
Vielen Dank, liebe Alexandra.
Immer zu haben für gute Hits, noch bessere Trips und klirrende Drinks.