Keystone / AP / Nick Ut
Kritik

Ist eines der wichtigsten Fotos der Geschichte geklaut?

Die Netflix-Doku «The Stringer» erhebt einen skandalösen Vorwurf: Das berühmteste Foto des Vietnamkriegs soll nicht von Nick Ut stammen, sondern von einem unbekannten Freelancer. Der Film blendet vieles aus, der Kern der Geschichte könnte trotzdem stimmen.

Warnung: Die folgende Kritik enthält Spoiler. Es geht nicht nur um die Qualität der Dokumentation, sondern auch um den Inhalt – und die Beweislage abseits des Films. «The Stringer» läuft seit dem 28. November auf Netflix.

«The Terror of War», besser bekannt als «Napalm Girl», gehört zu den bedeutendsten Fotos unserer Zeit. Es zeigt die neunjährige Kim Phuc, die schreiend auf die Kamera zuläuft – ihr Rücken verbrannt durch einen fehlgeleiteten Napalm-Angriff, der eigentlich nordvietnamesischen Truppen galt. Das Bild aus dem Jahr 1972 gilt als Mahnmal für die Brutalität des Vietnamkriegs und seine ungerechten Folgen für Unschuldige. Innerhalb von 24 Stunden sahen es geschätzt rund eine Milliarde Menschen.

Urheber des Fotos ist Nick Ut, ein vietnamesischer Fotograf der Associated Press (AP). Er gewann damit einen Pulitzerpreis und den World Press Photo Award. Darauf baute er eine erfolgreiche Karriere in Los Angeles auf. Über 50 Jahre später stellt die Netflix-Doku «The Stringer» eine unbequeme These in den Raum: Nick Ut soll «Napalm Girl» gar nicht fotografiert haben.

Spannende Spurensuche

Die schwere Anschuldigung stammt von Carl Robinson. Er war einer von APs Bildredakteuren in Vietnam. Robinsons Behauptung: Sein Chef Horst Faas habe ihm befohlen, die Bildunterschrift zu ändern. «Mach Nick Ut draus», soll der Deutsche ihm ins Ohr geflüstert haben. Der wahre Fotograf sei ein Freelancer (oder eben ein «Stringer») namens Nguyen Thanh Nghe. Dieser soll dafür 20 Dollar und ein Abzug als Andenken erhalten haben.

Make it Staff. Make it Nick Ut.
Horst Faas gemäss Carl Robinson

Mit seiner Geschichte gelangt Robinson 2022 an den Fotojournalisten Gary Knight. Zusammen mit einem Team von Reportern macht sich dieser auf die Suche nach der Wahrheit. Er interviewt Augenzeugen, sichtet Bildmaterial, gibt eine forensische Analyse in Auftrag und findet schliesslich den verschollenen Freelancer: Genau wie Nick Ut behauptet auch Nguyen Thanh Nghe, er habe das Bild gemacht.

Eine 3D-Simulation der französischen NGO Index stellt die Szene am 8. Juni 1972 nach.
Eine 3D-Simulation der französischen NGO Index stellt die Szene am 8. Juni 1972 nach.
Quelle: Netflix

Die Spurensuche ist hochspannend – besonders, wenn du dich für Fotografie oder den Vietnamkrieg interessierst. Tragische Musik, nachdenkliche Gesichter und bedeutungsschwangere Sätze treiben das Narrativ des Films voran. Am Ende werden unbefangene Zuschauer unweigerlich zum gleichen Schluss kommen wie Gary Knight: «The Terror of War» stammt ziemlich sicher nicht aus der Kamera von Nick Ut.

Damit die Geschichte optimal funktioniert, zeichnet die Doku klare Bilder der Protagonisten. Nick Ut ist ein Lügner. Nguyen Thanh Nghe ist ein Opfer, das um seine Anerkennung gebracht wurde. Carl Robinson ist ein von Gewissensbissen geplagter alter Mann und Horst Faas ein rücksichtsloser Choleriker.

Dieses Bild soll Nguyen Thanh Nghe zeigen, der angeblich wahre Urheber von «The Terror of War».
Dieses Bild soll Nguyen Thanh Nghe zeigen, der angeblich wahre Urheber von «The Terror of War».
Quelle: Netflix

Tote können sich nicht wehren

Aber Moment mal. Was sagt denn Horst Faas, seinerseits ein Titan der Kriegsberichterstattung, zur Geschichte? Oder der andere damals anwesende Bildredakteur Yuichi Ishizaki? Oder der anwesende Techniker namens Huan? Wir werden es nie erfahren. Denn praktischerweise sind sie alle tot. Nick Ut selbst verweigerte ein Interview für den Film.

So betrachtet «The Stringer» die Sachlage sehr einseitig. Der Whistleblower Carl Robinson wird kaum kritisch beleuchtet. Dabei sind seine Motive mehr als fragwürdig. Sein Groll gegen Nick Ut und AP ist hinlänglich bekannt und gut dokumentiert, unter anderem in seiner Autobiografie. Robinson war gegen die Veröffentlichung des Fotos, weil er es geschmacklos fand. Doch er wurde von Horst Faas überstimmt und 1978 entlassen. Nick Ut kritisiert er im Film als «zu unbescheiden».

Dass Robinson mit der Anschuldigung erst nach über 50 Jahren an die Öffentlichkeit geht, wirft Fragen auf, die der Film zwar stellt, aber nur ungenügend beantwortet. «The Stringer» spielt oft auf den Mann und zieht dabei Leute durch den Dreck, die sich nicht mehr wehren können. Vieles, was nicht zur These passt, wird ausgeblendet oder kaum hinterfragt. Stattdessen erhalten emotionale Anekdoten von Nguyen Thanh Nghe und seiner Familie viel Raum, obwohl sie gar nichts beweisen. Sie drücken bloss auf die Tränendrüse.

Gary Knight (rechts) hinterfragt Carl Robinsons Motive nicht sehr kritisch.
Gary Knight (rechts) hinterfragt Carl Robinsons Motive nicht sehr kritisch.
Quelle: Netflix

Am Ende will «The Stringer» gar rassistische Motive erkennen: Horst Faas und AP hätten systematisch Bilder von lokalen Freelancern als eigene ausgegeben und die vietnamesischen Fotografen ausgenutzt. Dafür gibt es erstens keine Beweise, zweitens wirkt die Rassismus-Keule arg bemüht angesichts der Tatsache, dass Nick Ut selbst Vietnamese ist. Unter dem Strich wirkt das Vorgehen der Filmemacher unfair, unprofessionell und emotional manipulativ.

Das ist schade und erweist dem angeblichen Ziel des Films – die Suche nach der Wahrheit – einen Bärendienst. Die ad-hominem-Argumente und der Fokus auf ungenaue Zeugenaussagen machen Gary Knight und sein Team weniger glaubwürdig. Stattdessen hätten sie sich lieber stärker auf harte Fakten konzentriert und blinde Flecken besser reflektiert. Es hätte die Geschichte nicht weniger spannend gemacht.

Die Folgen des Films

Auf Netflix erschien «The Stringer» am 28. November, knapp ein Jahr nach seiner Premiere am Sundance Filmfestival im Januar 2025. Seither sorgt er für viel Wirbel in der Foto-Welt. Nick Ut bestreitet die Vorwürfe weiterhin vehement. Er habe das Foto selbst geschossen und Kim Phuc anschliessend ins Krankenhaus gebracht. Diese schlägt sich auf die Seite des Fotografen. «Nick hat das Bild gemacht. Er verdient die Anerkennung, die er dafür erhalten hat», schreibt sie in einer Stellungnahme.

Laut Kim Phuc (das «Napalm Girl») hat Nick Ut (Mitte) das Foto von ihr gemacht.
Laut Kim Phuc (das «Napalm Girl») hat Nick Ut (Mitte) das Foto von ihr gemacht.
Quelle: Keystone / Alberto Pizzoli

Die Associated Press gab schon im Vorfeld der Filmpremiere eine eigene Untersuchung in Auftrag. Sie kommt zum Schluss, dass die Beweise nicht ausreichen, um Nick Ut die Urheberschaft abzuerkennen. Gleichzeitig konstatiert sie, dass es offene Fragen gibt, die wahrscheinlich nie beantwortet werden können. Zum Beispiel, warum das Bild aus einer Pentax-Kamera zu stammen scheint statt aus Nick Uts Leica.

Der Bericht der AP umfasst eine eigene, sehr lesenswerte visuelle Analyse des Bildmaterials der anderen anwesenden Medien. Sie ist nüchterner und fairer als der Film. Dort wird ein scheinbar unmöglicher Positionswechsel von Nick Ut als Fakt dargestellt. Die AP kommt zwar ebenfalls zum Schluss, dass es Hinweise darauf gibt, weist aber auf Lücken in der Zeitachse und fehlerhafte Berechnungen im Film hin.

Gemäss Analyse der AP lässt sich die Position der Kamera nicht genau bestimmen.
Gemäss Analyse der AP lässt sich die Position der Kamera nicht genau bestimmen.
Quelle: Associated Press

Auch World Press Photo untersuchte den Fall. Ähnlich wie AP kommt die Organisation hinter dem prestigeträchtigen Fotopreis zum Schluss, dass es keine definitiven Beweise, aber berechtigte Zweifel gibt. Diese erachtet die Organisation als so gross, dass sie die Urheberschaft des Fotos suspendiert – also weder Nick Ut noch Nguyen Thanh Nghe zuschreibt. Die Auszeichnung für das Foto bleibt aber bestehen.

Nick is the only one who could have taken that picture.
AP-Fotograf David Burnett

Viele grosse Namen stellen sich derweil hinter Nick Ut. Darunter David Burnett, der Fotograf der in der unbeschnittenen Version von «The Terror of War» rechts im Bild einen neuen Film in seine Kamera einlegt. Nick sei «der einzige gewesen, der in der Position war, dieses Bild zu schiessen». Burnetts angebliche Aussage im Film, wonach er hinter Nick Ut gestanden haben soll, habe er nie so getätigt.

Hat Nick Ut das Foto geschossen oder nicht?

Obwohl «The Stringer» mit unfairen Methoden arbeitet, könnte der Kern der Geschichte wahr sein. Es stehen Aussagen gegen Aussagen. An Erklärungen, warum die der Gegenseite falsch sind, mangelt es ebenfalls nicht. Die meisten Augenzeugen sind entweder schon sehr alt oder scheinen befangen. Aussagekräftiger sind die forensischen Analysen. Hier eine Übersicht der Hinweise.

Was dafür spricht, dass Nick Ut das Foto gemacht hat:

  • Die Aussagen von Nick Ut, Kim Phuc und David Burnett.
  • Nguyen Thanh Nghes seltsame Geschichte, dass er von der AP einen Abzug des Fotos erhalten habe – das scheint nicht plausibel, wenn die Agentur kurz davor wissentlich sein Bild falsch beschriften liess.
  • Nguyen Thanh Nghes Erklärung, warum er diesen Abzug nicht mehr hat, wirkt ebenfalls unglaubwürdig: Seine Frau habe das Bild zerrissen und entsorgt, weil sie es anstössig fand. Daran sei am Ende sogar ihre Ehe zerbrochen.
  • Der Umstand, dass Carl Robinson sich erst gemeldet hat, nachdem seine ehemaligen Kollegen alle gestorben sind. Im besten Fall macht ihn das zu einem Feigling, im schlimmsten zu einem bösartigen Rufmörder.
  • Nick Ut hat sich vor und nach dem fragwürdigen Tag ein beeindruckendes Portfolio erarbeitet. Von Nguyen Thanh Nghe gibt es sonst keine Arbeitsproben.
Die Erzählungen von Nguyen Thanh Nghes (links) und seiner Familie wirken teilweise unglaubwürdig. Widerlegen lassen sie sich allerdings auch nicht. So steht am Ende Aussage gegen Aussage.
Die Erzählungen von Nguyen Thanh Nghes (links) und seiner Familie wirken teilweise unglaubwürdig. Widerlegen lassen sie sich allerdings auch nicht. So steht am Ende Aussage gegen Aussage.
Quelle: Netflix

Was dagegen spricht, dass Nick Ut das Foto gemacht hat:

  • Die Aussagen von Carl Robinson, Nguyen Thanh Nghes und einigen anderen Augenzeugen.
  • Die visuelle Analyse des Bildmaterials, sowohl von Index als auch von AP. Es scheint nicht unmöglich, aber extrem unwahrscheinlich, dass Nick Ut zum Zeitpunkt der Aufnahme am richtigen Ort war.
  • Nick Ut gab stets an, er sei mit zwei Leicas und zwei Nikons unterwegs gewesen. «The Terror of War» stamme aus seiner Leica mit einem 35-mm-Objektiv. Die Negativ-Analyse der AP zeigt jedoch, dass das Bild wohl nicht mit dieser Kamera gemacht wurde, sondern mit einer Pentax mit einem 50-mm-Objektiv. Genau mit einer solchen fotografierte Nguyen Thanh Nghe. Nick Ut gab zwar später an, er habe ebenfalls eine Pentax besessen, es scheint aber unwahrscheinlich, dass er in genau diesem Moment nicht mit seiner alltäglichen Ausrüstung fotografierte.
Eine solche Pentax-Kamera hat gemäss AP vermutlich das Bild geschossen.
Eine solche Pentax-Kamera hat gemäss AP vermutlich das Bild geschossen.
Quelle: Netflix

Glaube ich, dass Nick Ut bewusst lügt? Nein. Er war an diesem Tag an diesem Ort und Horst Faas hat ihm gesagt, dass er das Bild gemacht hat. Auch sein Talent als Fotograf lässt sich nicht bestreiten, das zeigt seine spätere Karriere. Selbst wenn er viele seiner Gelegenheiten dem ikonischen Foto und den Preisen dafür verdankt.

Glaube ich, dass Nick Ut «The Terror of War» fotografiert hat? Ebenfalls nein. Die Hinweise auf das Gegenteil sind erdrückend – auch abseits der vielleicht befangenen Zeugenaussagen. Rechtfertigt das einen derart einseitigen Film, der nicht nur die Geschichte in Frage stellt, sondern auch vielen lebenden und toten Personen Bösartigkeit unterstellt? Zum dritten Mal nein.

Fazit

Explosiv, spannend, einseitig

Dem Thema und der Geschichte von «The Stringer» würde ich fünf Sterne geben. Die Recherche sorgt für den vermutlich grössten Skandal der Fotogeschichte und wird damit ein Teil derselben. Das ist spannend und unterhaltsam. Die Videos der verbrannten Kim Phuc sind ebenfalls eindrücklich, wenn auch schwer zu ertragen.

Trotzdem bekommt der Film von mir nur drei Sterne. «The Stringer» ist zu wenig neutral und blendet Kontext, der nicht zum Narrativ passt, teilweise aus. Er verurteilt zudem rücksichtslos Menschen auf persönlicher Ebene. Manchmal ohne Beweise. Manchmal ohne Gelegenheit zur Gegendarstellung, weil die Beschuldigten schon tot sind. Darüber trügt auch der Deckmantel des angeblich unbefangenen Protagonisten Gary Knight nicht hinweg.

Wenn du dich für Fotografie oder den Vietnamkrieg interessierst, führt kein Weg an «The Stringer» vorbei. Meine Empfehlung: Schau ihn dir an – und scroll dich direkt danach durch die Analyse der Associated Press. Ich bin gespannt auf deine Einschätzung in den Kommentaren.

Titelbild: Keystone / AP / Nick Ut

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Mein Fingerabdruck verändert sich regelmässig so stark, dass mein MacBook ihn nicht mehr erkennt. Der Grund: Wenn ich nicht gerade vor einem Bildschirm oder hinter einer Kamera hänge, dann an meinen Fingerspitzen in einer Felswand.


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