«Ich wollte raus aus dem konventionellen Leben»
Hintergrund

«Ich wollte raus aus dem konventionellen Leben»

Nachhaltigkeit ist in aller Munde und jeder will seinen Teil dazu beitragen. Doch viele, ich eingeschlossen, schwächeln diesbezüglich eben doch öfter einmal. Ich bin in den Toggenburg gereist und habe dort eine Gemeinschaft getroffen, die das mit dem zukunftsfähigen Leben durchzieht – mehr oder weniger.

Die Zugfahrt zieht sich hin. Von Zürich her dreimal umsteigen. Je länger die Fahrt dauert, desto weniger Häuser sind zu sehen. Endlich habe ich mein Ziel erreicht. Also fast. In Degersheim angekommen, muss ich noch eine Viertelstunde bergauf gehen. Bei praller Sonne und mit Laptop und Kamera im Gepäck. Meine Begeisterung hält sich in Grenzen. Degersheim liegt am äusseren Ende des Toggenburgs im Kanton St.Gallen. Das Dorf versprüht pure Idylle. Es ist umringt von Hügeln und Bergen, überall sind grüne Wiesen zu sehen und im Zentrum steht die Kirche. Doch das interessiert mich alles nur bedingt, ich bin unterwegs an den Dorfrand.

70 Personen im Zeichen der Nachhaltigkeit

Die Gemeinschaft Sennrüti pflegt eine ökologisch, ökonomisch und sozial nachhaltige Lebensweise. Gelebte Integration und Spiritualität runden das Konzept ab. Rund 70 Personen, Kinder und freiwillige Helfer eingeschlossen, leben gemeinsam auf einem grossen Grundstück am Rande des Dorfes. Ziel ist eine zukunftsfähige Lebensform, bei der Mensch und Natur im Einklang sind. Finde ich gut. Ich sollte mich auch viel öfter an der eigenen Nase nehmen. Ich versuche zwar, für meine Einkäufe eine wiederverwendbare Tasche zu nutzen und mein Gemüse unverpackt in den Einkaufskorb zu legen, doch ich bin eben auch oft ziemlich verschwenderisch. Grillieren irgendwo in der Natur? Da packe ich doch am besten mein Einweg-Plastikgeschirr ein! Hier gibt's definitiv noch Luft nach oben.

Nach dem erwähnten kurzen Fussmarsch – der sich nicht so kurz angefühlt hat – stehe ich am Eingang. Ich geh einfach rein und sehe mich nach René Hirschi um. Mir fällt eine Art «Klingel-Telefon» auf und finde seinen Namen darauf. Nach dem zweiten Klingeln höre ich eine Kinderstimme: «Mein Vater kommt gleich.» Recht hat der Sohn. Eine Minute später begrüsst mich René Hirschi im Eingangsbereich.

René Hirschi im Garten der Gemeinschaft Sennrüti.
René Hirschi im Garten der Gemeinschaft Sennrüti.

Aller Anfang ist schwer

Hirschi hat die Gemeinschaft Sennrüti vor neun Jahren zusammen mit seiner Frau, ihren Eltern und ein paar Freunden gegründet. Die Idee schwirrte aber schon viel länger in seinem Kopf herum. «Schon Jahre vorher wollte ich raus aus dem konventionellen Leben. Ich fragte beinahe jede Person in meinem Bekanntenkreis, ob sie bei einem solchen Projekt mitmachen würde.» Am Ende blieb eine kleine Gruppe, die bereit war, die Theorie in die Praxis umzusetzen.

«Wir haben überall in der Schweiz gesucht, im Aargau, in Luzern und eben in Degersheim. Ich hätte nie gedacht, dass wir in der Ostschweiz landen. Ehrlich gesagt wäre ich nicht freiwillig in die Ostschweiz», meint Hirschi. Doch überall gab es politische oder finanzielle Hürden, ausser in Degersheim. Die damalige Eigentümerin war angetan von der Idee, da auch sie schon davor Wert auf Nachhaltigkeit legte. «Und heute muss ich sagen, dass ich den Ort super finde.» Schön ist es hier wirklich, aber eben auch ein bisschen öde. Ich kann mir aber auch vorstellen, dass das bei 69 "Mitbewohnern" eine untergeordnete Rolle spielt.»

Das Grundstück umfasst drei Gebäude. Das Haupthaus, welches die meisten Wohnungen beherbergt, diente vorher als Kurhaus. «Wir mussten die ganzen einzelnen Gästezimmer zu Wohnungen umbauen», sagt Hirschi. Dafür wurde ein internes Bauteam gebildet, das auch gleich die Bauleitung übernahm. Was alleine gemacht werden konnte, wurde selbst angepackt, für alles andere griff die Gemeinschaft auf externe Arbeiter aus der Umgebung zurück. Zu Beginn des Projekts wurde zudem ein Architekt angestellt. «Doch mit der Zeit wussten wir so gut selber Bescheid, dass sein Einsatz nicht mehr nötig war.» Momentan wird wieder gebaut. Im obersten Geschoss entsteht eine neue Wohnung für eine Familie, die vom Dorf in die Gemeinschaft zieht.

Gut Ding will Weile haben. Der Einzugstermin liegt noch etwas ferner in der Zukunft.
Gut Ding will Weile haben. Der Einzugstermin liegt noch etwas ferner in der Zukunft.

Die Gartenarbeit basiert auf Liebe

Zwischen den drei Gebäuden – Haupthaus, Nebengebäude mit weiteren Wohnungen und einem Haus mit Begegnungsräumen – befindet sich ein grosser Garten. Ich bin gleich angetan. Hier könnte ich mich austoben. So geht es wahrscheinlich auch den ganzen Kindern. Es gibt einen Spielplatz, Gemüse- und Beerenbeete und sogar eine Sauna in einer Art Jurte. Marianne, die seit dreieinhalb Jahren in der Gemeinschaft Sennrüti lebt, kümmert sich vorwiegend ums Gemüse. «Beim Kauf war der Garten komplett verwildert, nach und nach wurden Beete angelegt, auch im Rahmen einer Permakultur-Ausbildung.» Permakultur beschreibt eine bewusst gestaltete Landschaft, die sich an den Mustern der Natur orientiert und dadurch ökologisch nachhaltig ist. Der Begriff leitet sich von «permanent agriculture», also dauerhafte Landwirtschaft, ab. So verbessert das Gartenteam den Boden mit eigenem Kompost, Jauche und Holzkohle. Hierzu wird die Kohle mit effektiven Mikroorganismen und Urin «aufgeladen» und dann entweder kompostiert oder direkt in die Beete eingearbeitet. Von wem der Urin stammt und wie er gesammelt wird, ist mir übrigens nicht bekannt.

«Dieses Jahr treiben viele Läuse ihr Unwesen», meint Marianne. Das kann ich nur bestätigen, auf meinem Balkon sind die kleinen Plagegeister auch schon eingefallen. «Diese versuchen wir mit Niem-Emulsion zu regulieren», sagt sie. «Niemöl wird aus den Samen und Früchten des Niembaumes gewonnen und kann unter anderem als natürliches Pestizid eingesetzt werden.» Wieder was gelernt. Egal, ob Läuse vertrieben oder neue Gemüsearten angepflanzt werden sollen, das Gartenteam arbeite stets mit Liebe, betont Marianne. Dabei orientiert es sich, wenn möglich, am Aussaat-Kalender von Maria Thun, Pionierin in Sachen biologisch-dynamische Anpflanzung. Für Marianne, wie wahrscheinlich für viele andere auch, ist Gärtnern «learning by doing».

Doch bald soll das Ganze etwas professioneller werden. René erklärt, dass ein umfangreiches Gartenkonzept mit Augenmerk auf Permakultur erarbeitet werden soll. «Steht dieses, wollen wir eine Arbeitsstelle für die Leitung des Gartens schaffen.» Momentan ernähren sie sich zu etwa drei Vierteln aus dem eigenen Garten und den Bio-Bauern aus der Umgebung und zu einem Viertel von regionalen Einkaufsläden. Renés Traum sei es aber, irgendwann den gesamten Bedarf aus dem eigenen Garten abzudecken. Schon jetzt ist das ganze Gemüse immerhin plastikfrei, egal von welcher Quelle es bezogen wird. Da haben sie den grossen Supermärkten schon einiges voraus.

«Die soziale Nachhaltigkeit wird oft vernachlässigt»

Die Gemeinschaft Sennrüti legt aber auch auf andere Dinge wert, um ein möglichst nachhaltiges Leben zu führen. Zum einen treffen sie weitere ökologische Massnahmen, wie Nutzung von Solarenergie, Einsatz von Regenwasser in Toiletten und Waschmaschinen oder der Verzicht auf ein eigenes Auto. Die Gemeinschaft besitzt aber doch sechs Autos, die untereinander geteilt werden.«Wir sind auf einem guten Weg und versuchen uns der nachhaltigen Lebensweise täglich zu nähern, doch angekommen sind wir noch lange nicht.» Angekommen hiesse für René zum Beispiel komplette Selbstversorgung, Energie nur aus erneuerbaren Quellen oder auch keinen Restmüll mehr. Doch das wird noch seine Zeit dauern.

Neben den ganzen ökologischen Aspekten, spielt aber zum anderen auch die soziale Nachhaltigkeit eine grosse Rolle. Diese werde heute viel zu oft vernachlässigt. «Durch die räumliche Nähe, wird uns öfter der Spiegel vorgehalten, du musst dich Konflikten stellen. Wir haben zum Beispiel die Regel, dass miteinander und nicht übereinander geredet wird.» So vermeide man negative Gefühle, die unter der Oberfläche anfingen zu brodeln. «Das ist wichtig, um den Frieden in der Gemeinschaft zu wahren», so René.

Aus diesem Grund hat die Sennrüti auch ein eigenes Entscheidungsinstrument eingeführt. Das sogenannte «Attunement» basiert auf drei Ebenen: der sachlichen, emotionalen und der intuitiven. Entschieden wird lediglich auf Basis der letzteren. Dabei werden Bilder, die sich zum Thema automatisch im Kopf bilden, beschrieben. So wird ersichtlich, ob die Grundhaltung negativ oder positiv ist. «Dieses Instrument nutzen wir für wichtige Entscheidungen wie Aufnahmen in die Gemeinschaft oder Wohnungsvergaben. Es dauert zwar 1 bis 2 Stunden, aber erspart uns endlose und unangenehme Diskussionen», sagt René. Meist herrsche das Prinzip des stillen Konsens. Massnahmen werden in Form eines Protokolls öffentlich gemacht. Wer etwas dagegen hat, kann sich innerhalb einer Woche melden, muss dann aber auch bei der Erarbeitung einer Alternative helfen.

Ich finde den Grundgedanken und die Vision der Gemeinschaft wirklich toll. Wie Nachhaltigkeit in allen Facetten gelebt wird, ist vorbildlich. Doch Entscheidungen anhand intuitiver Bilder zu treffen, geht mir persönlich ein wenig zu weit. Ich versteh nicht ganz, warum ich nicht einfach «Ja» oder «Nein» sagen kann. Das geht schneller und ist in meinen Augen klarer. Aber ich muss nicht immer alles verstehen.

In der Region verankert

Die Bewohner der Gemeinschaft arbeiten alle in «normalen» Berufen. Denn irgendwie muss das Ganze auch finanziert werden. Die Hürden für ein komplett autonomes Leben seien in der Schweiz höher als andernorts, findet René. «Schon nur die Bodenpreise lassen es nicht zu, dass wir uns komplett von der Gesellschaft abkoppeln.» Unabhängig davon sei dies auch nicht das Ziel der Sennrüti. Im Gegenteil, sie engagieren sich stark in der Region. So arbeiten viele Bewohner in sozialen Berufen in der Region, René selbst ist in der Jugendarbeit Flawil tätig.

Neben den eigenen Einkünften wird die Gemeinschaft als solche von Bund, privaten Geldgebern und der Raiffeisenbank finanziell stark unterstützt. Damit werden aber gemeinsame Projekte finanziert, das Leben in den eigenen vier Wänden muss grösstenteils durch die eigene Erwerbstätigkeit gestemmt werden. Denn was im Garten angepflanzt wird, wird hauptsächlich für die Gemeinschaftsküche verwendet. Diese tischt unter der Woche fast jeden Tag und auch mal zu speziellen Anlässen ein Mittagessen auf. Dort wird immer vegetarisch gekocht, was in der eigenen Wohnung passiert, ist Privatsache. Da können die Bewohner tun und lassen, was sie wollen. Ganz Tabu sind die Beete aber nicht, die Gemeinschaft kann immer einmal wieder was abzwacken. Dann heisst es vom Gartenteam: «Die Zucchetti sind erntereif, greift zu!» Ich weiss schon, wer dort immer in der ersten Reihe stehen würde ...

Ein Blick in die Gemeinschaftsküche.
Ein Blick in die Gemeinschaftsküche.

Der Grundgedanke gefällt mir

Wie in jeder Siedlung, gibt's auch in der Sennrüti ein gewisses Mass an Fluktuation. Meist, weil sich die Bewohner doch nicht vollständig mit der Lebensweise identifizieren können, weil sich in ihrem Leben etwas ändert oder weil ihnen das Leben in Gemeinschaft zu viel ist. Doch wenn's passt, dann bleiben die Leute. Bei dem Thema frage ich mich, ob ich in einer solchen Gemeinschaft leben könnte. Der Grundgedanke zur Nachhaltigkeit sagt mir zu. Vor allem, da diese nicht nur ökologisch, sondern auch ökonomisch und sozial verstanden wird. Die Bewohner sprechen Dinge offen an, um gegenseitigen Missverständnisse zu vermeiden. Das würde mir definitiv auch gut tun. Zu oft halte ich meinen Mund und «hässele» vor mich hin. Auch im grossen Garten mit Beeten, Spielplatz, Feuerstelle etc. würde ich mich pudelwohl fühlen. Da könnte ich meinen hellgrünen Daumen ein paar Nuancen tiefer färben und mir meinen nötigen Auslauf holen. Wenn ich den ganzen Tag nur rumhocke, kann ich nämlich ganz schön nervig werden. Hab ich mir zumindest sagen lassen.

Trotz dieser vielen positiven Aspekte, denen ich während des Tages begegne, glaub ich nicht, dass ich mich für das Leben in der Gemeinschaft eigne. Für ein abschliessendes Urteil, müsste ich aber für einige Zeit in der Sennrüti leben. Das käme für mich aber erst in ein paar Jahren in Frage. Momentan bin ich in meiner 3.5-Zimmer-Wohnung im Grossraum Zürich zufrieden. Ich geniesse die Infrastruktur, die kurzen Wege, das einfache Erreichen von Freunden. Degersheim wäre mir in meiner jetzigen Lebensphase zu ländlich, zu ruhig, zu wenig multikulturell. Ich möchte den Nachhaltigkeitsgedanken – und zwar alle drei Arten davon – mehr in mein Leben integrieren, aber nicht mein Leben dem Nachhaltigkeitsgedanken unterordnen.

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Meinen Horizont erweitern: So einfach lässt sich mein Leben zusammenfassen. Ich liebe es, neue Menschen, Gedanken und Lebenswelten kennenzulernen,. Journalistische Abenteuer lauern überall; ob beim Reisen, Lesen, Kochen, Filme schauen oder Heimwerken.


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