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Ich mach meinen Gedanken Beine: Spazierengehen als Selbstversuch

Spazierengehen? War nie meins. Doch weil der Alltag an mir zerrt, sehne ich mich gerade nach entspannenden Alternativen zum Leistungssport. Also los: Ein Selbstexperiment über die Entdeckung der Langsamkeit.

Ich gehe nie spazieren. Eigentlich kenne ich nur zwei Aggregatzuständen meines Körpers: fest oder flüssig – angespannter Sprint oder Stillstand, sprich: so lange faul herumliegen, dass ich mich fast auflöse. Spazierengehen, das langsame Gehen, ist für mich eine unnatürliche Geschwindigkeit. Für gewöhnlich bewege ich mich entweder sehr schnell oder gar nicht.

In gekrümmter Körperhaltung tippe ich also dieses Postulat in die Tasten, sich im Alltag mehr zu bewegen. Dabei weiß ich selbst nicht, wie das in moderater Ausführung gehen soll. Vielleicht gibt es zwischen Sprint und Stillstand ja noch die Langsamkeit, die ich bisher als ermüdendes Unterfangen abgetan habe. Ist Spazierengehen vielleicht ein angenehmer Kompromiss für hektische Tage?

Spazierengehen: Bewegung für Körper und Geist

Im Schritttempo zufriedener, ausgeglichener und kreativer

Was man weiß: Bewegung in der Natur wirkt stressreduzierend. So zeigen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der Universität Michigan im Fachmagazin «Frontiers in Psychology» einen Zusammenhang zwischen 20-minütigem Spazierengehen im Grünen und deutlicher Stressreduktion durch die Senkung des Cortisol-Spiegels.

Studien wie diese legen sogar einen positiven Effekt von Bewegung auf das alternde Gehirn nahe. Auf den Punkt gebracht, bestätigen die Daten: Gehen hält uns fit im Kopf.

Ein Spaziergang für freien Kopf und gute Laune

Was aber passiert beim Gehen im Körper? Unser Gehirn wird besser durchblutet, was die Nervenzellen mit mehr Sauerstoff und Nährstoffen versorgt. Dadurch können sich leichter neue Zellen im Gehirn bilden. Bewegung an der frischen Luft wirkt sich zudem positiv auf unsere Stimmung aus. Freigesetzte Endorphine und die von der Sonne aufgetankten Vitamin-D-Speicher verbessern die Laune.

Beflügelt die Gedanken: Langsames Gehen

Heinrich von Kleist hat einmal den klugen Essay «Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden» verfasst. Münzt man seine Worte frei auf das langsame Gehen um, dann funktioniert die Vollendung der Gedanken beim Spazierengehen am besten. Wohl auch, weil wir beim Gehen in der Natur nicht wie sonst alle 18 Minuten aufs Handy schauen (vorausgesetzt, man achtet tatsächlich auf die Schönheit der natürlichen Umgebung).

Jetzt haben wir viel darüber gelesen, was ein Spaziergang in der Theorie und Praxis alles können könnte. Doch ganz praktisch gefragt, was sagen diese Studien über mich aus? Kann mich Spazierengehen genauso glücklich machen wie Joggen? Mit Endorphin-Rausch und «Runner’s High»? Ich ziehe meine Schuhe an und gehe los.

Ein Spaziergang in den spätsommerlichen Wienerwald

Ich bin neu in der Nachbarschaft und kenne mein Grätzl – also mein Viertel – noch nicht sehr gut. Vor kurzem bin ich näher an den Stadtrand gezogen, um näher am Grünen zu leben. Meine Ausgangslage eignet sich also ausgezeichnet, um regelmäßiges Spazierengehen in meinen Alltag zu integrieren.

Das Springseil liegt locker in meiner rechten Hand, vielleicht ist das der Grund, warum ich einen sehr beschwingten Gang einlege. Oder liegt es an der ungetrübten Herbstsonne, die mir den Stress der letzten Wochen aus dem Gesicht schmelzen lässt? Auch die Vögel über mir wirken erleichtert über die kühleren Temperaturen, ihr Zwitschern erfüllt mich mit einer kindlichen Freude an der Welt.

Selbstexperiment: Von Tauben und Blumenwiesen

Am Ende des Waldweges komme ich zu einer Lichtung. Oben angekommen blicke ich über das in orangenes Licht getauchte Wien. Am Rande der Lichtung sehe ich gewöhnliche Straßentauben durch hohes Gras und Blumen spazieren. Der Anblick ist so fremd – womöglich machen sie wie ich gerade ein Experiment und denken über ihren Platz in der Welt nach? Vielleicht ist das natürliche Habitat von Tauben auch gar nicht der U-Bahn-Schacht sondern bunte Blumenwiesen?

Ein Hoch auf die Absichtslosigkeit: Fazit

Ich schlendere wieder zurück nach Hause. Das Einzige, das mich an die Uhrzeit erinnert, ist die untergehende Sonne. Mit dem Schritt in meine Wohnung hat mich der Alltag leider wieder – so schnell geht das wohl doch nicht mit der inneren Ruhe. Immerhin hat mich das Spazierengehen zumindest für eine Zeit auf andere Gedanken gebracht und auch mein Körper fühlt sich gut an: Der Rücken aufrechter, die Sehnen geschmeidig, der Herzschlag kräftig.

Titelbild: unsplash/bielmorro

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Ich liebe blumige Formulierungen und sinnbildliche Sprache. Kluge Metaphern sind mein Kryptonit, auch wenn es manchmal besser ist, einfach auf den Punkt zu kommen. Alle meine Texte werden von meinen Katzen redigiert: Das ist keine Metapher, sondern ich glaube «Vermenschlichung des Haustiers». Abseits des Schreibtisches gehe ich gerne wandern, musiziere am Lagerfeuer oder schleppe meinen müden Körper zum Sport oder manchmal auch auf eine Party. 


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