Meinung

Es lebe die Gratiskultur

Bei mir im Quartier gibt’s fast alles «for free». Seit Corona blüht der Tauschhandel, das Trottoir wird zur Shoppingmeile und jeder Spaziergang interessanter. Die alten Sachen erzählen Geschichten.

Ob ein Sofa, Regale und Bücher oder einen Satz Barhocker – im Laufe der letzten Monate hätte ich mir die Wohnung komplett neu einrichten können. Samt Bibliothek, Küche und Kinderzimmer. Für lau, denn das Zeug steht kistenweise an der Strasse. Seit März wird ausgemistet. Die Lockdown-geplagte Nachbarschaft schaut sich zuhause um und handelt nach dem Motto: «Alles muss raus!» Wie im Schlussverkauf ist von echten Schnäppchen bis zu absolutem Ramsch alles dabei.

«Gratis! Zum Mitnehmen!»

Doch insgesamt ist die Qualität überraschend hoch. Bei fast allen funktioniert der Filter im Kopf, was den Mitmenschen nicht nur zuzumuten ist, sondern auch Freude bereiten könnte. Wer alle zwei Wochen das Altpapier akkurat gebündelt vor die Tür stellt, gibt sich auch beim Ausmisten Mühe.

Da waren die Halloween-Kostüme, die sorgfältig verpackt, mit Grössen angeschrieben und dem Hinweis «frisch gewaschen» versehen an der Bushaltestelle lagen. Oder eine ganze Einfahrt voll gut erhaltener und sortierter Spielsachen, die jetzt wieder benutzt werden.

Das pompöse Sofa, auf dem wir eine halbe Stunde in der Sonne verbracht und von dem ich gedacht habe, dass es nie verschwinden wird. Es hat die Dämmerung nicht mehr in unserer Strasse erlebt.

Ein Traummann als Ladenhüter

All die Dinge, denen die Vorbesitzer kein Ende in der Müllverbrennungsanlage zumuten wollen. All die Sachen, bei denen der Verkauf für ein paar Franken zu mühsam ist. All der Kram, der doppelt und dreifach im Schrank liegt, findet den Weg auf die Strasse – und vielleicht neue Besitzer gleich nebenan. Mich zum Beispiel.

Ich kann mir nicht helfen. Ich muss schauen, wenn irgendwo «Gratis!»-Kartons stehen. Sie sind voller Geschichten. Manchmal entdecke ich Kuriositäten, wie den «Traummann» als letzten Ladenhüter. Eine Mogelpackung: Die Backform war nicht mehr drin und selbst wenn – es wäre nur ein halber Kerl mit verrutschter Visage gewesen. Kein Verlust, dass er bei uns nicht mehr lieferbar ist.

5 Personen gefällt dieser Artikel


User Avatar
User Avatar

Einfacher Schreiber, zweifacher Papi. Ist gerne in Bewegung, hangelt sich durch den Familienalltag, jongliert mit mehreren Bällen und lässt ab und zu etwas fallen. Einen Ball. Oder eine Bemerkung. Oder beides.


Haushalt
Folge Themen und erhalte Updates zu deinen Interessen

Meinung

Hier liest du eine subjektive Meinung der Redaktion. Sie entspricht nicht zwingend der Haltung des Unternehmens.

Alle anzeigen

Diese Beiträge könnten dich auch interessieren

  • Meinung

    Kein Glacé der Welt ist so gut, dass ich mich zwei Stunden dafür anstelle

    von Carolin Teufelberger

  • Meinung

    Liebeserklärung an das Laufen

    von Patrick Bardelli

  • Meinung

    Ode an ein Nussstängeli

    von Patrick Bardelli