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Die 10-Prozent-Regel beim Laufen: weit verbreitet, aber falsch

Siri Schubert
10.11.2025

Viele Joggerinnen und Jogger leiden unter Verletzungen. Bisher galt, dass du dein Risiko reduzierst, wenn du dein Training um nicht mehr als zehn Prozent steigerst. Ein Forscher aus Dänemark hat das nun widerlegt. Was tatsächlich schützt, verrät er im Interview.

«Du solltest dein Laufvolumen von einer Woche bis zur nächsten um nicht mehr als zehn Prozent erhöhen» – dieser Ratschlag war fast ein Mantra in der Laufszene. Und nicht nur das: Die Empfehlung fand Eingang in die Algorithmen der Laufuhren und ist die Basis vieler im Internet verfügbarer Trainingspläne.

Wer den Trainingsempfehlungen der Uhr folgt, trainiert möglicherweise zu viel.
Wer den Trainingsempfehlungen der Uhr folgt, trainiert möglicherweise zu viel.
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Nur: Nach den Ergebnissen neuester Forschung stimmt sie nicht. Rasmus Østergaard Nielsen, Associate Professor an der Universität Aarhus in Dänemark, und sein Team sammelten im Rahmen der Garmin Runsafe Health Study Daten von 5205 Läuferinnen und Läufern aus 87 Ländern über einen Zeitraum von 18 Monaten. Dabei loggten die Teilnehmenden knapp 600 000 Laufsessions. 35 Prozent von ihnen erlitten während der Studie eine Überlastungsverletzung.

Das Forschungsprojekt, das bisher grösste seiner Art, zeigt, dass laufbedingte Überlastungsverletzungen nicht – wie bisher angenommen – allmählich entstehen, sondern plötzlich. Manchmal sogar schon während einer einzigen Trainingseinheit. Ich habe mit dem leitenden Forscher der Studie gesprochen.

Viele Läuferinnen und Läufer – ich gehöre dazu – nutzen die Zehn-Prozent-Regel, um ihr Training zu steigern. Liegen wir da gründlich daneben?
Kann man so sagen. Wir haben in unserer Studie herausgefunden, dass schon eine einzige Trainingssession mit zu hohem Umfang dein Verletzungsrisiko erheblich erhöht.

Wie sieht das konkret aus?
Wenn du bei einem Lauf statt den gewöhnlichen zehn Kilometern elf bis 13 Kilometer läufst, hast du ein 64 Prozent höheres Risiko, dich zu verletzen. Wenn du den Umfang in einer Session verdoppelst, also statt zehn plötzlich 20 Kilometer läufst, erhöht sich das Risiko um 128 Prozent.

Von welcher Art von Verletzung sprechen wir hier?
Es geht um Überlastungsverletzungen und das sind meistens Verletzungen an den Sehnen. Läuferknie, Springerknie, aber auch Schmerzen an der Kniescheibe und Beschwerden an der Innenseite der Unterschenkel sowie das Schienbeinkantensyndrom sind typisch. Wenn du die Intensität zu schnell steigerst und zu viele harte Intervalle rennst, sind Entzündungen der Achillessehne, Verletzungen am hinteren Oberschenkel oder eine Plantarfasziitis, auch als Fersensport bekannt, häufiger.

Dr. Rasmus Østergaard Nielsen ist selbst begeisterter Läufer. Er will die Gründe für Verletzungen besser verstehen.
Dr. Rasmus Østergaard Nielsen ist selbst begeisterter Läufer. Er will die Gründe für Verletzungen besser verstehen.
Quelle: Rasmus Østergaard Nielsen

Während der Studiendauer erlitten 35 Prozent der Läuferinnen und Läufer Überlastungsverletzungen. Dabei gilt Joggen gemeinhin als gesund und keinesfalls als Risikosport.
Was vielen nicht klar ist: Die Folgen von Laufverletzungen können schwerwiegend sein. Du fällst für Monate aus und kannst nicht oder nur sehr eingeschränkt trainieren. Manche leiden ihr ganzes Leben unter den Schäden.

Was macht Laufverletzungen so tückisch?
Überlastungsverletzungen werden tatsächlich unterschätzt. Aber sie sind genauso ernst wie traumatische Verletzungen. Was sie besonders macht: Sie brauchen sehr lange, um zu heilen. Bei Schäden an Sehnen durch zu starke, wiederholte Belastung sprechen wir von drei bis acht Monaten. Manche Verletzungen heilen aber nie ganz aus.

Wenn die Achillessehne entzündet ist, haben Sportlerinnen und Sportler oft einen langen Leidensweg vor sich.
Wenn die Achillessehne entzündet ist, haben Sportlerinnen und Sportler oft einen langen Leidensweg vor sich.
Quelle: Shutterstock

Wenn Belastungsschäden so häufig sind und die Zehn-Prozent-Regel keinen Schutz bietet, warum ist sie so weit verbreitet?
Seit vielen Jahrzehnten stützen sich klinische Lehrbücher, Coaches sowie Physiotherapeuten und die Smartwatch-Industrie auf die Vorstellung, dass sich Überlastungsverletzungen allmählich über einen längeren Zeitraum hinweg entwickeln. Deshalb hat sich die Forschung auf die Frage konzentriert, wie sich die Kilometerzahl von Woche zu Woche steigert. Daraus wurde die Zehn-Prozent-Regel abgeleitet, die besagt, dass man im Vergleich zur Vorwoche maximal zehn Prozent mehr laufen soll, um einen Leistungsfortschritt zu erzielen, ohne dass die Verletzungsgefahr zu gross wird.

Diese Regel findet sich auch in den Algorithmen vieler Sportuhren, um eine sichere Trainingssteigerung vorzugeben. Das schützt also nicht?
Die Algorithmen mancher Sportuhren und generische Trainingspläne aus dem Internet empfehlen sogar 20 Prozent. Aber wir haben in 15 Jahren, in denen wir uns aus wissenschaftlicher Sicht mit Laufverletzungen beschäftigen, keine konsistenten Muster identifiziert, die diesen Ansatz bestätigen. Im Gegenteil, die Zahl der verletzten Läuferinnen und Läufern blieb hoch.

Was rätst du stattdessen?
Die Steigerung sollte in kleinen Schritten vor sich gehen. Ich denke, dass eine Fünf-Prozent-Regel besser schützt. Wer beispielsweise für einen Marathon trainiert, sollte sich sehr viel Zeit lassen und den Umfang langsam steigern. Wer gerade erst mit dem Laufen anfängt, würde wahrscheinlich eineinhalb Jahre brauchen, um sich ohne hohes Verletzungsrisiko an einen Marathon heranzutasten. Natürlich kann es individuell gesehen auch schneller gehen, aber das ist eben mit einem Risiko verbunden.

Wie lang sollte der längste Lauf in der Marathonvorbereitung sein? Die oft zitierten 30 Kilometer stimmen da eher nicht, nehme ich an?
Ich würde im Training versuchen, eher 39 Kilometer als die längste Distanz zu erreichen, um die Verletzungsgefahr beim Rennen zu mindern.

Auf Instagram und Tiktok gibt es aktuell den Trend, einen Marathon ohne Vorbereitung und auf der Basis von vermeintlicher mentaler Stärke zu laufen. Keine gute Idee, schätze ich mal.
Natürlich kann man das mental schaffen, aber irgendwann stösst jeder Körper an seine Grenzen. Die Frage bleibt, wo diese liegen. Das ist je nach Läufertyp unterschiedlich, aber klar ist auch: Niemand ist wie Superman oder Superwoman, die einfach weitermachen können. Irgendwann bricht jeder zusammen.

Gibt es Faktoren, die das Risiko beeinflussen?
Die Wahrscheinlichkeit einer Verletzung steigt, wenn Läuferinnen oder Läufer neue Schuhmodelle tragen, das Gelände oder die Laufgeschwindigkeit ändern, und dann zu viel laufen – um nur einige Beispiele zu nennen. Wenn sich das Volumen und die Belastungsverteilung plötzlich ändern, müssen andere Strukturen die Arbeit übernehmen. Sie brauchen aber Zeit, um sich anzupassen.

Was spielt sonst noch eine Rolle?
Frühere Verletzungen, weil sie als Schwachpunkte bleiben. Wer älter ist und schon eine Reihe kleinerer Verletzungen hatte, wird eine übermässige Belastung wahrscheinlich nicht vertragen. Ein weiterer Faktor ist der Body-Mass-Index (BMI). Schwerere Läuferinnen und Läufer haben ein höheres Risiko und sollten ihr Training noch behutsamer steigern.

Manche Verletzungen kommen immer wieder.
Manche Verletzungen kommen immer wieder.
Quelle: Shutterstock

Werden die Hersteller die Sportuhren demnächst so anpassen, dass sie deine Forschungsergebnisse berücksichtigen?
Dos hoffe ich. Garmin hat uns zwar bei der Rekrutierung der Teilnehmenden an dieser Studie sehr unterstützt, hatte aber keinen weiteren Einfluss auf die Studie oder die Ergebnisse. Ich würde es natürlich begrüssen, wenn sie unsere Ergebnisse in die Algorithmen einfliessen liessen. Das gilt nicht nur für Garmin, sondern für alle Uhrenhersteller. Wir haben die Ergebnisse allen zugänglich gemacht. Selbst verfolgen wir damit kein kommerzielles Interesse, als Forschende konzentrieren wir uns auf Gesundheitsförderung.

Was sind für dich die nächsten Schritte?
Die Ergebnisse unserer Untersuchung haben natürlich unsere Neugier geweckt, ob es bei anderen Sportarten auch so ist. Wenn jemand beim Training normalerweise 50 Kniebeugen macht und dann motiviert durch den Trainer oder eine Challenge 500 Kniebeugen hinlegt, gehe ich davon aus, dass dadurch auch das Verletzungsrisiko steigt. Ich denke, das Problem ist genau das gleiche wie beim Laufen. Das würden wir gerne untersuchen, um die Daten zu haben und zu schauen, ob wir die Vermutung belegen können.

Vielen Dank, Rasmus, für die spannenden Einblicke in die Forschung und das Gespräch.

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Forschungstaucherin, Outdoor-Guide und SUP-Instruktorin – Seen, Flüsse und Meere sind meine Spielplätze. Gern wechsel ich auch mal die Perspektive und schaue mir beim Trailrunning und Drohnenfliegen die Welt von oben an.


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