
«Das ist unsere erste gemeinsame Nacht»

Wer für Nez Rouge fährt, bleibt bis in die frühen Morgenstunden wach, um Fahruntüchtige nach Hause zu fahren. Freiwillig und unbezahlt. Ich war eine Nacht mit auf Tour.
Militärflugplatz Dübendorf. 21.30 Uhr an einem Mittwoch. An der Pforte schliesse ich einen Tauschhandel mit dem Militärbeamten ab: Ausweis gegen Besucherbadge. Auf der anderen Seite der schweren Eisenstäbe werde ich schon erwartet und in die Zentrale geführt. Dort hat die Stimmung so gar nichts Militärisches. Kein Wunder, der Flugplatz ist nur Mittel zum Zweck. Nüssli, Schoggi, Mandarinen und Kaffeebecher sind auf Tischen verteilt. An ihnen sitzen sechs Männer verschiedenen Alters und reden munter durcheinander. An den Stühlen hängen ihre Uniformen, dicke rote Jacken mit dem Logo von Nez Rouge.
Im Einsatz für sichere Strassen
Als freiwillige Helfer werden sie heute Nacht Menschen sicher nach Hause bringen, die ihr Auto nicht mehr selber lenken können oder wollen. Ihre Mission: Die Strassen im Dezember sicherer machen. «In dem Monat jagt ein Weihnachtsapéro den nächsten, weshalb öfter mal ein Gläschen zu viel getrunken wird», sagt Hans Koller, Medienverantwortlicher von Nez Rouge Zürich. Diesen Dezember wurden so in der gesamten Schweiz 35 200 Personen in 16 800 Fahrten sicher nach Hause gebracht. 10 700 Freiwillige – so viele wie noch nie – haben das ermöglicht. Zwei von ihnen sind Fredy Schaffer und Marcel Tschopp. Fredy ist erst seit letztem Jahr dabei, Marcel schon seit über zehn. «Ich bin davor zehn Jahre freiwillig Krankenwagen gefahren und weiss daher aus erster Hand, was alkoholisiert im Strassenverkehr alles passieren kann», so Marcel. Fredys Beweggründe sind ganz andere. «Ich bin seit letztem Sommer offiziell geschieden. Meine Kinder sehe ich nur ab und zu, also habe ich mir etwas Sinnvolles gesucht. Sonst fällt mir irgendwann daheim die Decke auf den Kopf.»
21.45 Uhr. Zeit für ein kurzes Briefing, bevor um 22 Uhr die Leitungen für Anrufe geöffnet werden. Einsatzleiterin Marguerite Weber erklärt allen Freiwilligen, worauf heute Nacht zu achten ist. «Schaut immer, ob das Auto des Kunden strassentauglich ist, denn ihr als Lenker seid dafür verantwortlich, nicht der Besitzer. Und lasst euch am Ende vom Kunden per Unterschrift bescheinigen, dass alles in Ordnung ist.» Auf diesem Blatt werden unter anderem Abhol- und Ankunftszeit eingetragen sowie die Höhe der Spende. Nez Rouge funktioniert nämlich auf Trinkgeldbasis. Was mich erstaunt ist, dass davon kein Rappen an die Fahrer geht, sondern an eine Hilfsorganisation. «Dieses Jahr fahren wir für den Verein Surprise, der sich für sozial benachteiligte Menschen in der Schweiz einsetzt. Nach Abzug aller Aufwendungen gehen etwa 80 Prozent aller Einnahmen dorthin», erklärt Weber. Den Nez-Rouge-Fahrern bleibt der Dank und das gute Gefühl, der Allgemeinheit einen Dienst erwiesen zu haben. Im Schnitt zahlen sie eher noch drauf. «Bussen sowie die rote Jacke müssen wir selbst bezahlen und pro 100 Kilometer bekommen wir einen 10-Franken-Tankgutschein», sagt Fredy. «Dieses Engagement mit all den Begegnungen geben mir so viel, dass mir das nichts ausmacht.»
Der erste Anrufer ist in der Leitung
«Es wird wahrscheinlich nicht viel los sein. Es wäre aber schön, wenn ihr alle einmal auf die Strasse könnt», sagt Weber. Das wären dann drei Fahrten, denn die Freiwilligen sind immer zu zweit unterwegs. Sie fahren entweder mit einem Auto von Nez Rouge oder, wenn diese nicht reichen, mit dem eigenen zum Kunden. Dort wird aufgeteilt: Einer fährt den Kunden in dessen eigenem Auto nach Hause, der andere folgt mit dem mitgebrachten.
Nachdem alle Fragen geklärt sind, begibt sich Weber ins Nebenzimmer, wo die tatsächliche Einsatzzentrale eingerichtet ist. Sie öffnet die Telefonleitungen und hat gerade noch Zeit, mir grob den Ablauf eines Kundengesprächs zu erläutern, bevor es schon das erste Mal klingelt. 22.04 Uhr, so schnell habe ich keinen Anruf erwartet. Ich kann mir die eben gelernte Theorie gleich in der Praxis anschauen. Name, Standort, Destination und Telefonnummer nimmt sie vom Kunden auf. Gleichzeitig öffnet sie Google Maps, um abschätzen zu können, wann der Kunde mit dem Nez-Rouge-Team rechnen kann. Ich freue mich schon auf den Einsatz, denn Fredy und Marcel sind Team 1, also als erstes dran. Aber ich freue mich zu früh, der Kunde hat keine Lust auf Presse. Team 2 geht los. 20 Minuten später ist es dann für uns soweit. Wir sollen einen Herrn von Oerlikon nach Rapperswil bringen.
Schon immer eine soziale Ader
Wie weit denn die Strecken seien, die sie zurücklegen und ob nur Fahrten innerhalb des Kantons erlaubt seien, will ich von den beiden wissen, als wir im gesponserten Volvo sind. «Nein, wir fahren teilweise auch in angrenzende Kantone, das ist nicht offiziell geregelt. Die meisten Fahrten sind aber schon im Kanton Zürich», sagt Marcel. «An meinem ersten Tag, dem 24.12.2018, bin ich stolze 360 Kilometer gefahren. Solche Zahlen sind aber eher die Ausnahme», fügt Fredy an, während er die Adresse ins Navi eingibt. Jetzt noch Anschnallen und los geht’s. Zeit, mehr über meine Begleiter zu erfahren. «Ich war Sozialpädagoge und habe mit Menschen mit Beeinträchtigung gearbeitet. Dazu gehörte auch, einen Rollstuhlbus zu fahren. So habe ich mir eine umsichtige Fahrweise angewöhnt», erzählt Fredy. Heute ist er IV-Rentner. Bei ihm wurde Multiple Sklerose (MS) diagnostiziert. Marcels Liste mit freiwilligen Einsätzen ist lang: Neben den zehn Jahren als Krankenwagenfahrer hat er sich auch bei der Berghilfe und Feuerwehr engagiert.
Wir sind fast da, noch etwa zehn Minuten. Marcel als Beifahrer ruft den Kunden an, um Bescheid zu geben, damit sich dieser schon bereit machen kann. «Trotzdem gibt’s immer wieder Leute, die bei unserer Ankunft noch kurz eine Stange trinken wollen.» Dafür bleibt aber keine Zeit, wenn es an strengen Abenden ein Anruf nach dem anderen reinschneit. Das ist vor allem an Wochenenden und an Heiligabend sowie Silvester der Fall. «Am letzten Tag des Jahres ist mit Abstand am meisten los», sagt Marcel. Das hat mir zuvor auch Marguerite Weber bestätigt. Sie würden mit all den Anfragen kaum fertig und könnten locker 50 Teams brauchen. Effektiv seien es aber eher um die 40, wenn überhaupt. Es fehle immer wieder an Freiwilligen an solchen Tagen.
Stark betrunkene Kunden sind die Ausnahme
Unterdessen sind wir angekommen. Meinen wir zumindest zu diesem Zeitpunkt. Während sich Marcel beim Parkhaus auf die Suche nach dem Kunden macht, rede ich ein wenig mehr mit Fredy. Ob es denn normal sei, dass nur Männer, die sich vorwiegend im Pensionsalter befinden, im Einsatz sind. «Nein, letztes Jahr bin ich oft mit Frauen gefahren. Aber Pensionäre stellen tatsächlich die grösste Gruppe dar. Trotzdem war ich erstaunt, wie viele berufstätige Leute sich als Freiwillige melden. Ärzte, Rechtsanwälte, Polizisten, alles querbeet gemischt.» Marcel kommt zurück. Alleine. Wir sind im falschen Parkhaus. Also zurück ins Auto und zur richtigen Adresse. Dort wartet der Herr schon auf uns. Marcel geht mit ihm in die Tiefgarage herunter, um dessen Cadillac zu holen. Ich bleibe bei Fredy, der Kunde möchte lieber ohne meine neugierigen Fragen nach Hause gebracht werden. Schade, ich habe mich schon auf einen Perspektivenwechsel gefreut.
«Während der Fahrt nach Hause kommst du mit den meisten Kunden ins Reden. Du erfährst ganze Lebensgeschichten und kriegst oft zu hören, wie sehr deine Arbeit geschätzt wird», sagt Fredy. Stark alkoholisierte Leute seien die krasse Ausnahme. «Die meisten sind etwas angetrunken. Es gibt aber auch immer wieder welche, die einfach zu müde sind, um selbst zu fahren.» Der Weg nach Rapperswil zieht sich, wir reden über alles mögliche. Über den liegenden Mond draussen, über die Besonderheiten dieses Streckenabschnitts und übers Leben allgemein. Wir kommen an der Autobahnausfahrt Dürnten vorbei. «Dort wohne ich. Wenn du willst, können wir alle gemeinsam auf dem Rückweg bei mir noch einen Kaffee trinken», sagt Fredy. Klingt gut, langsam werde ich müde hinten im Auto.
Beim Haus des Kunden in Rapperswil angekommen, füllt Marcel das Auftragsblatt aus und bekommt 50 Franken in die Hand gedrückt. Dann ist der Kunde weg. Es ist jetzt 23.44 Uhr. «Zwischen 20 und 50 Franken ist in etwa der normale Betrag, den du für eine Fahrt bekommst. Dass jemand gar nichts gibt, ist äusserst selten», sagt Marcel. Auch er ist einverstanden mit dem Kaffee bei Fredy zu Hause. Die Telefone sind noch bis 1 Uhr offen, es ist eher unwahrscheinlich, dass noch ein zweiter Einsatz folgt. Diese werden per SMS durchgegeben und dem Team zugeteilt, das am schnellsten vor Ort sein kann. Meine beiden Begleiter wirken relativ vertraut. Ob sie denn schon öfter miteinander gefahren seien, will ich wissen. «Nein, für Marcel und mich ist es die erste gemeinsame Nacht», sagt Fredy und lacht.
Rente mit 70
Der Kaffee tut gut. Auch das Klo kommt gelegen. Dabei frage ich mich, wie das die Freiwilligen machen. «Du musst den Kunden fragen, ob du noch schnell aufs Klo darfst oder dann halt in einem Lokal, wenn du dort jemanden abholst», sagt Fredy. Wir reden wieder über Gott und die Welt, während der Kaffee meinen Blick wieder wacher werden lässt. So entgeht mir auch nicht, dass sich Fredy und Marcel über das Höchstalter bei Nez Rouge austauschen. Bis 70 darf man fahren, dann ist Schluss.
Sobald alle Tassen leer sind, müssen wir uns wieder auf den Weg machen, um rechtzeitig um 1 Uhr in der Zentrale zu sein. Auch Fredy, der schon zu Hause wäre. Hart. In der Zentrale angekommen, herrscht gähnende Leere, nur Weber ist noch da. Sie erzählt mir, dass heute insgesamt fünf Aufträge reingekommen sind. Gar nicht so übel für einen ruhigen Abend. Zum Abschluss eines ereignisreichen Abends werde ich beschenkt. Ich darf ein kleines Plüsch-Rentier mitnehmen, das Maskottchen von Nez Rouge. Wir verabschieden uns und gehen nach draussen. Ich bin zwar nicht alkoholisiert, ein rotes Näschen habe ich unterdessen aber trotzdem. Es ist schweinekalt in dieser klaren Nacht. Zum Glück fährt mich Fredy noch zurück nach Zürich. An der Pforte tauschen wir Besucherausweis wieder gegen ID. Es ist jetzt 01.21 Uhr.


Meinen Horizont erweitern: So einfach lässt sich mein Leben zusammenfassen. Ich liebe es, neue Menschen, Gedanken und Lebenswelten kennenzulernen,. Journalistische Abenteuer lauern überall; ob beim Reisen, Lesen, Kochen, Filme schauen oder Heimwerken.