

Sie wollte keine Wimmelbücher machen, jetzt gehört ihr das Genre

Rotraut Susanne Berners Wimmelbücher sind aus den Kinderzimmern kaum wegzudenken. Im Interview erzählt sie, warum das nie der Plan war, wieso Buchhändler Armin so aussieht wie ihr Mann und was ein guter Wimmel-Kosmos mit einem Drehbuch zu tun hat.
Meine Kinder liegen bäuchlings auf dem Boden, vor ihnen die grossformatigen Wimmelbücher von Rotraut Susanne Berner. Ich liebe es, ihnen dabei zuzusehen, wie sie in diesen bunten Bildern versinken. Manchmal versinke ich gleich selbst mit. Dann beobachten wir gemeinsam, wie die Katzenbabys grösser werden, der Papagei abhaut und der Kindergarten fertig gebaut wird. Bei jedem Anschauen entdecken wir neue Details – auch beim hundertsten Mal.
Wimmelbilder sind Illustrationen mit unzähligen Figuren, Szenen und kleinen Geschichten. Rotraut Susanne Berner hat das nicht erfunden – aber weitergedacht: Sie hat mehrere solcher Wimmelbilder zu einer grossen Erzählung zusammengestrickt. Über mehrere Seiten und Bände hinweg. Mit dem Dorf Wimmlingen und 80 wiederkehrenden Figuren hat sie eine Welt erschaffen, die sie zu einer der erfolgreichsten Kinderbuchautorinnen unserer Zeit macht.
Ihre Jahreszeiten-Wimmelbücher stehen in fast jedem Kinderzimmer, hört man sagen. 6.5 Millionen verkaufte Exemplare wurden in 30 Sprachen übersetzt. Wie fühlt sich das an?
Rotraut Susanne Berner: Das ist bizarr, wenn mir das bewusst wird. Ich frage mich oft, wie das gekommen ist. Nur wenige Illustratorinnen und Autoren erschaffen Klassiker. Und mir ist das passiert. Das ist ein grosses Glück, wofür ich sehr dankbar bin.
Sie sind momentan mit einem neuen Buch für die Reihe beschäftigt, «Weihnachten in Wimmlingen». Ausgerechnet jetzt, wo draussen alles blüht …
Ja, ich sitze hier im Spätfrühling und lasse es schneien.

Quelle: Gerstenberg
Sie haben schon Ihr allererstes Wimmelbuch, das Winterbuch, im Sommer illustriert.
Das war im Sommer 2003, einer der heissesten Sommer überhaupt! Jedes Mal, wenn ich von meinen Winterbildern hochschaute, dachte ich: «Wo bin ich hier?» Das war verrückt.
Hören Sie dazu Weihnachtsmusik?
Nein, im Gegenteil. Ich mache bewusst Pausen auf meiner kleinen Terrasse und geniesse die warme Jahreszeit.
Das Winterbuch ist vor 22 Jahren erschienen. Wie ist es für Sie, die Geschichte von Wimmlingen über so lange Zeit weiterzuspinnen? Ist es vor allem schön, die Charaktere weiterleben zu lassen – oder würden Sie die Geschichte gerne mal abschliessen?
Beides ist der Fall. Diese Figuren sind ja aus mir heraus entstanden: Ich habe sie gern und sie sind mir vertraut. Natürlich bin ich auch aus pragmatischen Gründen daran interessiert, dass der Kosmos aus Wimmlingen am Leben erhalten bleibt. Ich verdiene so mein Geld. Auf der anderen Seite ist mir wichtig, zwischendurch etwas völlig anderes zu machen. So habe ich gerade ein Buch über Menschenrechte für junge Erwachsene illustriert. Danach widme ich mich gerne wieder Wimmlingen.
Haben Sie Lieblingsfiguren?
Besonders am Herzen liegt mir der Buchhändler Armin. Ich habe ihn meinem Mann nachempfunden, der 2012 verstorben ist. Er sieht genauso aus und wird auch im Weihnachtsbuch eine Rolle spielen.
Lassen Sie Ihren Mann so ein Stück weiterleben?
Ja. Wobei er sowieso noch sehr stark bei mir lebt. Ich wohne in unserer gemeinsamen Wohnung und bin umgeben von seinen Dingen. Ich arbeite im selben Ladenlokal, in dem er früher Illustrationen ausgestellt hat. Seinen Nachlass habe ich in das deutsche Buch- und Schriftmuseum in Leipzig gegeben, zusammen mit meinen Originalen. So sind wir wieder ein bisschen zusammen.
Kommen Sie selbst in Wimmlingen vor?
Ich bin in verschiedenen Personen vertreten, am ehesten in Susanne. Sie hat mit mir gemeinsam, dass sie ihre Hüte und Mütze ständig verliert.

Ich muss gestehen, dass ich selbst ein grosser Fan Ihrer Wimmelbücher bin. Dabei mag ich Wimmelbilder oft nicht, weil sie mir zu hektisch sind ...
Ich habe mich selbst lange gegen Edmund Jacoby – meinen damaligen Verleger bei Gerstenberg – gewehrt, der mich mit dem Wunsch traktierte, Wimmelbücher zu machen. Das ist eigentlich gar nicht meins. Ich arbeite nicht gern so kleinteilig und so aufwändig. Als ich trotzdem entschloss mitzumachen, wollte ich das auf eine andere, neue Art umsetzen.
Wie denn?
Meine Wimmelbücher sind eigentlich eine grosse Erzählung. Die Personen treffen sich, streiten sich, kriegen Kinder. Der Zeitfaktor kommt beim «Vater der Wimmelbücher» Ali Mitgutsch nicht vor. In seinen Bildern kann man sich verlieren. Aber dass man sich als Leserin oder Leser wie auf einer Bühne bewegt, auf der fortlaufend etwas passiert, gab es vorher nicht. Mittlerweile haben das viele nachgeahmt. Damals war das neu.
Dieses literarische Erzählen in kindlichen, lebendigen Bildern: Ist das Ihr Erfolgsrezept?
Dazu muss ich sagen, dass der Erfolg erst eintrat, als alle Jahreszeiten-Bücher veröffentlicht waren. Die ersten beiden Bücher liefen gar nicht gut. Ein Buch ohne Text, da lernen die Kinder ja nichts, war man besorgt. Dabei war meine Idee, dass Kinder die Bücher autonom anschauen können. Ich sehe sie vor mir, wie sie auf dem Bauch liegen, völlig versunken in den Bildern. Die ganz Kleinen zeigen darauf und sagen: Katze, Auto, Storch. Wenn sie grösser werden, merken sie, dass da etwas erzählt wird und sie vergleichen die Jahres- und Tageszeiten.
Wie behalten Sie bei so vielen Charakteren den Überblick, was alles auf einer Seite geschieht und dann im grossen Ganzen in den verschiedenen Bänden?
Mit dem ersten Band habe ich ganz naiv einfach angefangen. Aber ich bin schnell dazu übergegangen, mit System vorzugehen. Ich schreibe vor jedem Buch ein Drehbuch wie beim Film: Wer kennt wen, was passiert wann. Auf Listen habe ich notiert, welche Kleidung die Personen tragen, wo sie wohnen, wer wen kennt. Das Hauptaugenmerk liegt auf der Strasse, die sich durch die Bücher zieht. Im Winter fährt darauf von Seite zu Seite der Bus, im Frühling das Müllauto. Was im Hintergrund passiert – ob eine Frau wandert oder der Dieb durchs Bild schleicht – kommt mir spontan beim Zeichnen.

Mein Kind fragte mich kürzlich, wo die Züge aus dem Bahnhof herausfahren. Sie nehmen sich die Freiheit, auf Grössenverhältnisse und Perspektiven nicht allzu viel Rücksicht zu nehmen. Wieso?
In den Bildern kommen viele unlogische Dinge vor, das ist wohl wahr. Perspektivisch stimmt bei mir wenig. Die Bilder sind wie auf einer Theaterbühne ineinandergeschoben. Ich wollte nicht, dass sich zu viel überschneidet, damit die Lesbarkeit gewährleistet ist.
Sind Ihr Stil und Ihre Zeichentechnik seit jeher die gleichen?
In den Wimmelbüchern und auch meinen «Karlchen»-Büchern, ja: Meine Figuren sind darin alle umrandet und coloriert. Das ist eine traditionelle Form des Illustrierens. Ich verwende Pastell- und Gouachefarben sowie Buntstifte. Dass auch nach 20 Jahren noch alle Personen gleich aussehen, ist eine feine handwerkliche Arbeit und gar nicht so leicht. Man entwickelt sich ja weiter und verändert den Strich. Das sieht man den Büchern auch ein bisschen an. Wenn die Zielgruppe nicht kleine Kinder sind, wende ich aber auch ganz andere Techniken an.
Sie haben in einem Interview Walter Trier als Ihr Vorbild erwähnt. Er hat alle Bücher von Erich Kästner illustriert. Inwiefern hat er Sie inspiriert?
Walter Trier zeichnete seine Figuren mit einer gewissen Distanz, aber immer mit einem liebevollen Blick. Das gefällt mir sehr. Er war ein genialer Zeichner und auch als Person ein grosses Vorbild. Er hat sich in Karikaturen politisch gegen die Nazi-Diktatur geäussert. Ein durch und durch sympathischer Künstler und Mensch. Die Kästner-Bücher hatte ich als Kind zu Hause: Mein Vater war Verleger und achtete darauf, dass ich «gute» Bücher lese, keine Comics zum Beispiel. Das habe ich aber natürlich trotzdem auch gemacht.
In Ihren Wimmelbüchern tauchen Menschen im Rollstuhl und mit unterschiedlichen Hautfarben auf. Wie wichtig ist Ihnen Diversität in Ihren Kinderbüchern?
Oh, da kamen schon Vorwürfe von allen Seiten. Die einen finden, dass zu wenig Ethnien vertreten sind, aber dass die Müllfahrer keinen Migrationshintergrund haben dürften. Die anderen fragen, warum denn nun unbedingt eine schwarze Frau und eine mit Kopftuch zu sehen sein müsse. Ich will die Realität so abbilden, wie sie ist. Ja, und dazu gehört auch ein Rollstuhlfahrer. Zum Glück. Als ich Kind war, sah man kaum einen auf der Strasse, weil fast nichts barrierefrei war. Perfekt ist mir das nicht gelungen. Es kommt zum Beispiel keine blinde Person vor. Man könnte noch weitere Defizite aufzählen, wenn man wollte.
Sie sind in Süddeutschland aufgewachsen und sagten in einem Interview, dass Sie Wimmlingen einem Ort dieser Region aus den 1950er- und 1960er-Jahren nachempfunden haben. Haben Sie Ihre Kindheit als so idyllisch wie Wimmlingen in Erinnerung?
Ja, ich habe die Zeit als harmonisch in Erinnerung. Die ersten Jahre bin ich auf dem Land gross geworden, nahe Stuttgart. Die Strasse war mein Spielplatz, es gab damals kaum Autos. Meine Grosseltern arbeiteten als Bauern. Wir sind viel gewandert und haben gesungen. Aus meiner heutigen Perspektive war das aber eine Scheinidylle. Wenn man sich überlegt, wie kurz die Gräuel des Krieges her waren.
Auch heute gerät die Weltlage vielerorts ins Wanken. Wimmlingen ist ein überschaubarer Ort, in dem die Welt noch in Ordnung zu sein scheint. Ist das eine Welt, die Sie sich so wünschen würden?
Meine Bücher sind weniger politisch oder weltanschaulich gemeint. Ich will Zweijährigen nicht die Welt in ihrer Scheusslichkeit zeigen. Ich konzentriere mich auf Dinge, die Kinder in ihrem Alltag wiederfinden: die Katze, den Hund, das Auto, den Baum und den Bagger. Manches ist auch märchenhaft, zum Beispiel Oskar mit der Gans. Eine rätselhafte Figur, von der niemand etwas Genaues weiss.

Wie hat der Erfolg Ihr Leben und Ihre Arbeit verändert?
Ich war lange Jahre zufrieden, habe aber nicht viel verdient und mit überzogenem Konto gelebt. Das hat sich zum Glück geändert. Wer keine ökonomischen Sorgen hat, lebt entspannter. So gesehen müsste ich keine Bücher mehr machen. Dieses Jahr werde ich 77 und werde oft gefragt: «Warum tust du dir das an? Jetzt lass doch mal und geniess das Leben!» Ich arbeite aber nach wie vor sehr gerne. Wenn sich junge Erwachsene bei mir bedanken, weil sie mit meinen Büchern aufgewachsen sind, berührt mich das. Gleichzeitig realisiere ich dadurch, wie die Zeit verfliegt. Da ich keine eigenen Kinder habe, die ich heranwachsen sehe, ist mir das sonst nicht so bewusst.


Eigentlich bin ich Journalistin, in den letzten Jahren aber auch vermehrt als Sandkuchenbäckerin, Familienhund-Trainerin und Bagger-Expertin tätig. Mir geht das Herz auf, wenn meine Kinder vor Freude Tränen lachen und abends selig nebeneinander einschlafen. Dank ihnen finde ich täglich Inspiration zum Schreiben – und kenne nun auch den Unterschied zwischen Radlader, Asphaltfertiger und Planierraupe.