Hintergrund

Bruchlandung im Wolkensessel

Michael Restin
26.12.2020

Ich tue mich schwer damit, Entspannung in der Entspannung zu finden. In Bewegung kann ich problemlos abschalten. Doch wenn Ruhe einkehrt, ist das eigene Hirn ein mächtiger Endgegner.

Was für ein Jahr. Was. Für. Ein. Jahr. Für uns alle. Jetzt ist Runterfahren angesagt. Nicht nur die Computer und Kontakte, sondern auch den Geist. Und das ist gar nicht so einfach. Irgendein Gedanke flippert mir immer durch den Kopf. Ich bin gut darin, das Gedankenkarussell am laufen zu halten, und flüchte mich in der Regel in Bewegung, um auszuspannen. Dann bin ich bei mir. Um «Gschpürsch mi»-Angebote habe ich lange einen weiten Bogen gemacht.

Irgendwann war ich so schmerzbefreit, gemeinsam mit einer Kollegin immer den Unisport-Kurs zu besuchen, der gerade in den Zeitplan passt. Es wurde eine Art Feldversuch, bei dem wir einen Tag im CrossFit-Quartalstest von Meister Proper persönlich angebrüllt wurden, um beim nächsten Mal morgens um sieben im «Body Balance» zu den Klängen von «Oh Happy Day» die Arme durch die Luft zu schwenken. Yoga, Pilates, Feldenkrais, progressive Muskelrelaxation – been there, done that. Und nach Jahren in einer Mietwohnung über dem Behandlungsraum einer Schamanin bin ich selbst mit Seelengesängen und Trance-Trommeln bestens vertraut.

Alle diese Angebote sind okay, aber nichts für mich. Ich kann einfach nicht darin aufgehen. Trotzdem will ich es nochmal versuchen. Wäre doch schön, ein paar Entspannungstechniken zu beherrschen. Dafür schaue ich mich weit entfernt von der esoterischen Ecke um. Das Institut für komplementäre und integrative Medizin des USZ hat eine Fülle von Angeboten zum Anhören und Mitmachen, die in der Corona-Zeit helfen sollen. Statt in den Skilift schmeisse ich mich mit Schwung in den Wolkensessel. Mal schauen, was das mit mir macht. In zehn Minuten bin ich wieder da.

Reisebericht

Die gute Nachricht vorneweg: Es ist noch ein Platz für dich frei, denn jeder von uns hat seinen ganz eigenen Wolkensessel. Er ist gratis und entspricht genau deinen Vorstellungen. Auf Schweizerdeutsch finde ich ihn flauschiger als auf Hochdeutsch.

Anfangs liege ich ausgestreckt auf dem Parkett und lausche einer sanften Frauenstimme. Versuche, alles andere auszublenden. Dass ich, um meinen «Wulchesässu» zu erreichen, zuerst über die Regenbogentreppe muss, bereitet mir Schwierigkeiten. Ich dürfte ihn mir auch einfach nur vorstellen und die Treppe ignorieren, aber das gelingt mir nicht. Schon bin ich geistig falsch abgebogen. Während ich Erinnerungen an frische Luft und saftige Farben in die Ohren gesäuselt bekomme, muss ich mental Vollgas geben, um irgendwie dieses Bild beiseite zu schieben. Der Regenbogen und die Wolke, die mir in den Sinn kommen, erscheinen mir unpassend.

Mit meinem Sohn diskutiere ich ständig darüber, wann und wie lange er Mario Kart spielen darf. Ich bin auf dem Regenbogen-Boulevard gelandet und sehe den Typ auf der Wolke, der die Startampel an der Angel hat. Falsch. Ganz falsch, denke ich. «Alles ist genau richtig», höre ich. Ich könne gar nichts falsch machen. Völlig egal, ob ich die Regenbogentreppe rauf- oder runtergehe. Zum Glück kennt die entspannte Dame meinen Regenbogen nicht. Oder doch? Wir gehen das Farbspektrum durch: «Orange wie das Licht an der Ampel, wenn sie dir sagt, du sollst aufpassen.» Zockt sie mit? Dann müsste sie jetzt den Daumen auf «A» pressen, um den Turbostart nicht zu vermasseln.

Nein. Sie bleibt entspannt. Mir gelingt es bei «Blau» und dem Bild eines sich sanft kräuselnden Sees, den falschen Film für einen Moment zu verlassen. Jetzt spüre ich mich ein bisschen, der Weg über den Regenbogen ist fast geschafft. Da ist er, der «Wulchesässu». Mein ganz persönlicher, der mir gerade schmackhaft gemacht wird: «Du kannst staunen, wie gut sich das anfühlt!» Hat er eine Massagefunktion?

Ich öffne einen Tab nach dem anderen im Gedankenbrowser. Gerade erst habe ich im Web einen richtigen, echten Sessel entdeckt, der meinen Namen trägt. Ich heisse Restin, er auch, und er verspricht Hilfe bei dem, was ich gerade erfolglos versuche: «clear your mind». Wird aber leider nur in Amerika verkauft. Für 8000 Dollar.

Screenshot: https://restin.co/
Screenshot: https://restin.co/

Ich habe die Ruhe im Namen. Aber Chilbi im Kopf. Es gelingt mir nicht, im imaginären Wolkensessel zu versinken. Ich denke an das Buch «Wolkenbruchs wunderliche Reise in die Arme einer Schickse», das ich mal lesen müsste, jetzt, wo der Meyer für Galaxus schreibt. Lege eine Bruchlandung im Wolkensessel hin, zwinge mich hart zurück in meinen Wattebausch, der, wie ich erfahre, in der genau richtigen Position Widerstand gibt. So wie mein Balance Pad, das neulich ein Thema war. Jetzt denke ich auch noch an die Arbeit. Na toll. Ich sollte längst in anderen Sphären schweben. Bloss nicht selbst unter Druck setzen. Fokus.

Die mentale Technik, die gerade zum Einsatz kommt, ist mir vertraut. Das hilft, wieder den Anschluss zu finden. Konzentration auf einzelne Körperteile. Bein um Bein, Arm um Arm, bis ich perfekt in meiner Wolke liege. Gute Nachricht im Ohr: Ich kann die Temperatur meines «Wulchesässu» regulieren. Schlechte Nachricht im Kopf: Auf meinem Schreibtisch liegen immer noch zwei neue Homematic-Theromstate, die ich seit Monaten nicht in den Kinderzimmern installiert habe, weil ich einfach keine passenden Adapter finde.

Nicht ärgern. Nicht jetzt. Ich würde mein Hirn gerne mit den eigenen Assoziationsketten an den Wolkensessel fesseln. Kaum lasse ich mich auf die Übung ein, fliege ich schon wieder raus. Dabei ist Eile geboten, denn mein Sessel hat ein spezielles Feature: «Die Wolke schwebt, du gewinnst Abstand.» Weich, stabil und sicher. Weich, stabil und sicher soll ich sein. Dann herrscht Ruhe.

Endlich produziert mein Kopf keine neuen Bilder mehr. Kaum liege ich stabil, geht es auch schon wieder zurück zum Regenbogen. Langsam ins Hier und Jetzt. Zehn Minuten sind vorbei und ich mir nicht sicher, ob der Trip ein Erfolg war. So weit bin ich schon lange nicht mehr gereist. Aber mein Hirn hat so wenig Ruhe gefunden, wie eine asiatische Reisegruppe beim Europa-in-drei-Tagen-Trip. Abschalten ist wirklich schwer. Ich werde üben müssen. Es ist noch kein Meister vom Himmel direkt in den Wolkensessel gefallen.

Vielleicht spiele ich heute Abend eine Runde Mario Kart.

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Einfacher Schreiber, zweifacher Papi. Ist gerne in Bewegung, hangelt sich durch den Familienalltag, jongliert mit mehreren Bällen und lässt ab und zu etwas fallen. Einen Ball. Oder eine Bemerkung. Oder beides.


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