

Bouldern: Ein Plädoyer dafür, Dinge zu versuchen, die du (vermeintlich) hasst

Manchmal reicht ein einziger Abend, um Vorurteile ins Wanken zu bringen. Ich bin jedenfalls genau so zu einem neuen Hobby und einer grundlegenden Erkenntnis gekommen.
Hättest du mich vor einem Jahr zum Bouldern eingeladen, hätte ich dich mit hochgezogenen Augenbrauen oder einem fragenden Lächeln angeschaut und ein ironisches «Ja klaaaar» von mir gegeben. Und jetzt … hänge ich hier an der Wand und versuche, den nächsten Henkel zu fassen.

Quelle: Gabriel Grob
Aber ich fange vorne an.
Kletterhippies
Während des Studiums kam ich zum ersten Mal näher mit den Hobbyboulderern und Sportkletterinnen in Kontakt. In die Vorlesungssäle reihten sich zwischen nackten Füssen, Wanderschuhen und Sneakers auch ein paar Kletterschuhe ein. Und die Menschen darin waren mir mehr als suspekt.
Vielleicht war es der Anblick, wie sie in ihren verwaschenen Tanktops Mate aus der patagonischen Kalebasse tranken. Oder das überhöhte Selbstbewusstsein, das ich auf sie projizierte, weil sie ständig ihre Muskeln präsentierten. Bouldern wirkte auf mich nicht wie ein Sport, sondern wie eine ganze Persönlichkeit. Und damit wollte ich ganz sicher nichts zu tun haben.
Ich war felsenfest davon überzeugt, dass mich nichts in eine stickige Boulder-Halle lockt. Schon der blosse Gedanke daran, meine Hände auf die raue Oberfläche dieser farbigen Griffe zu legen, jagte mir einen Schauer über den Rücken.

Quelle: Stefanie Lechthaler
Doch dann meldete sich kürzlich ein Kindheitsfreund bei mir. Er suchte nach Leuten, mit denen er Sport machen kann. «Klingt gut», entgegnete ich begeistert, bis meine Freude von seinem Satz «Bouldern zum Beispiel» getrübt wurde.
Auf zum neuen Hobby
Weil wir auf einer Wellenlänge sind, reichte sein «Ich weiss, du wirst es lieben» dann aber doch aus, um mich zu überzeugen. Ich halte viel von ihm, also muss auch was an dieser Sportart dran sein.
Und jetzt, drei Tage später, stehe ich vor der Boulderhalle «Minimum» in Oerlikon, und es ist, als würde ich durch die raumhohen Fenster in ein überdimensionales Terrarium blicken. Drinnen beobachte ich die Kletternden an den überhängenden Wänden. Wie Chamäleons verrenken sie ihre Köpfe und platzieren einen Fuss nach dem anderen auf den Tritten. Am Boden darunter hocken ihre Artgenossen, die ihnen zuschauen. Alles ist in Bewegung, kein Fleck unberührt. Wie auch? Schliesslich hat sich an diesem Tag ganz Zürich in dieser Boulderhalle versammelt. So kommt es mir zumindest vor.
Drinnen leihe ich mir ein Paar dieser hässlichen Schuhe aus. Diejenigen, die meine Mitstudierenden anhatten. Wir wärmen uns auf und mein Blick bleibt bei einem Typen hängen, der die Boulderprobleme, so werden die Routen genannt, vom Boden aus studiert und die Handgriffe mimt. Mein Kollege grinst: «Einige stehen stundenlang vor der Wand, nur um dann zur nächsten zu laufen, ohne je einen Griff berührt zu haben.» Ich muss lachen, aber jetzt wirds ernst.
Nach dem ersten Griff angefixt
Aus Angst, mich zu blamieren, wünsche ich mir zum Start eine versteckte Wand, was in der Menschenmenge fast unmöglich scheint. Aber wir werden fündig und mein Freund erklärt mir, welche Route die einfachste ist. Die erste Runde geht auf ihn. Innert Sekunden berührt er den obersten Griff, der das Ende einer Route anzeigt. Ich pudere meine Hände mit Magnesium, setze sie in den Henkel, positioniere meine Füsse auf den Tritten und hangle mich von Jug zu Jug – so heissen die Henkel auf Englisch. Ehe ich es fassen kann, bin ich drei Meter über dem Boden und hungrig darauf, das nächste Projekt – sorry, schon wieder Boulderjargon – anzugehen.

Quelle: Stefanie Lechthaler
Wer offen für Neues ist, hat mehr vom Leben
Irgendwann sind es meine Muskeln, die nachgeben und mich daran erinnern, wie schnell die Zeit vergeht, wenn ich Spass habe. Mir wird bewusst, dass meine Vorurteile falsch waren und es zum Bouldern neben etwas Kraft insbesondere Kreativität, Geschick und Beweglichkeit erfordert. Ausserdem tummeln sich keinesfalls nur protzige Kletterhippies in der Halle herum, sondern sympathische Gesichter, die sich gegenseitig motivieren und unterstützen. Eine offene und bunte Gemeinschaft mit dem Ziel, Probleme zu lösen.

Quelle: Gabriel Grob
Dieser Abend hat mir schöne Stunden mit meinem Kindheitsfreund beschert und ich wurde mit einem neuen Hobby belohnt, dem ich weiter nachgehen will. Ja, auch ich muss meine Vorurteile immer wieder überdenken, um nicht festgefahren zu werden.
Aber erwarte jetzt auf keinen Fall, mich bald draussen an der Felswand anzutreffen. Das ist wirklich nichts für mich.
Oder?
Welche Erfahrung hast du gemacht, die deine anfängliche Skepsis in Begeisterung verwandelt hat? Schreib es in die Kommentare.


Die Wände kurz vor der Wohnungsübergabe streichen? Kimchi selber machen? Einen kaputten Raclette-Ofen löten? Geht nicht – gibts nicht. Also manchmal schon. Aber ich probiere es auf jeden Fall aus.