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«The Legend of Heroes»: Die längste Story im Gaming

21 Jahre, 13 Spiele, eine Story: Eine japanische Rollenspielserie schreibt heimlich Gaming-Geschichte.

Videospiele und ausschweifende Storys – name a more iconic duo. «Dark Souls» versteckt seine Geschichte in Item-Beschreibungen und Gegner-Biografien, «The Elder Scrolls» hat Bücher, die niemand liest (abgesehen von «The Lusty Aragonien Maid», das ist ein Klassiker) und «Warcraft» eine Enzyklopädie, die umfangreicher ist als die Wikipedia-Seite von Liechtenstein. Aber alle diese Spiele erzählen ihre Geschichten in Fragmenten oder sie sind so lose miteinander verbunden, dass es ein bisschen egal ist.

Es geht allerdings auch anders. Fernab des Spotlights entstand über 20 Jahre hinweg das längste fortlaufende Narrativ im Gaming. Eine Serie, die beweist, dass Videospiele nicht nur Geschichten erzählen können wie Bücher oder Filme – sie können es manchmal sogar besser und vor allem persönlicher.

Die Serie heisst «The Legend of Heroes» und sie ist eines der ambitioniertesten Storytelling-Projekte der Popkultur.

Drachentöter und Nummern-Chaos

Bevor wir in die epischen Tiefen der modernen «Trails»-Saga eintauchen, braucht es einen kurzen Geschichtsexkurs: In den frühen 80ern, als Frisuren gross und Schulterpolster noch grösser waren, brachte die japanische Spieleschmiede Nihon Falcom ihren ersten Hit

«Dragon Slayer» heraus. «Dragon Slayer» war Mitgründer des Action-RPG-Genres und ist damit der Grossvater von «Diablo», «Path of Exile» und all den anderen «nur noch einen Level»-Games.

Ohne «Dragon Slayer» kein «Diablo».
Ohne «Dragon Slayer» kein «Diablo».
Quelle: Nihon Falcom

Bis 1992 ballerte Nihon Falcom sechs Sequels raus, darunter das Spin-Off «Dragon Slayer: The Legend of Heroes». Dieses entfernte sich von seinen Action-RPG-Wurzeln und setzte stattdessen auf rundenbasiertes und story-fokussiertes Gameplay.

Die darauffolgende «Gagharv»-Trilogie – bestehend aus «The White Witch», «Tear of Vermillion» und «Song of the Ocean» – legte dann das Fundament für das, was kommen sollte: zusammenhängende Geschichten in einer penibel detaillierten Welt.

Aller Anfang ist schwer: Die «Gagharv»-Trilogie zündete noch nicht wirklich.
Aller Anfang ist schwer: Die «Gagharv»-Trilogie zündete noch nicht wirklich.
Quelle: Rainer Etzweiler

Davon merkten westliche Spieler allerdings erstmal nichts, weil Publisher Bandai die Chronologie über den Haufen warf. «The Legend of Heroes III» kam vor «The Legend of Heroes II» raus, weil ... naja, weil die 90er wild waren und offenbar niemand wusste, was Kontinuität bedeutet.

Allzu viel verpassten wir ohnehin aber nicht. Die erste Trilogie ist nur Durchschnitt und hat bis auf den Namen wenig bis gar nichts mit den späteren Releases zu tun.

Eine Saga beginnt

2004 dann der Neustart: «The Legend of Heroes VI: Trails in the Sky» läutete die Ära der «Trails»-Serie ein (die VI wurde später gestrichen, weil eh niemand mehr durchblickte). «Trails in the Sky» erzählt die Geschichte von Estelle Bright und ihrem Adoptiv-Bruder Joshua, die sich auf einer Pilgerreise befinden, um sich zu Bracers, einer Art Söldner, ausbilden zu lassen.

Estelle und Joshua gehören zu den liebenswertesten JRPG-Charakteren überhaupt.
Estelle und Joshua gehören zu den liebenswertesten JRPG-Charakteren überhaupt.
Quelle: Nihon Falcom

Diese bescheidenen Plot-Pfade verlässt das Game nach einigen Stunden. Während die Abenteuer von Estelle und Joshua im Fokus bleiben, erhält das Worldbuilding mindestens genauso viel Aufmerksamkeit. Der Kontinent Zemuria ist keine generische Fantasy-Welt mit drei Königreichen und einem bösen Imperium.

Es gibt funktionierende Wirtschaftssysteme, politische Intrigen, die sich über mehrere Spiele ziehen, technologischen Fortschritt, der die Gesellschaft verändert, und kulturelle Unterschiede zwischen Regionen, die tatsächlich Sinn ergeben. Zemuria lebt und atmet.

Und du bist mittendrin.

Eine Frage des Charakters

Ebenso viel Liebe bekommen die Charaktere. Die Protagonisten und ihre Party-Freunde haben Ängste, Launen und nachvollziehbare Motivationen. Estelle ist keine «Ich-will-die-Welt-retten»-Heldin von der Stange, sondern ein Tomboy mit Macken. Ihr Bruder Joshua hat Daddy-Issues und Geheimnisse, die erst nach mehreren Dutzend Spielstunden komplett aufgedeckt sind.

Lloyd Bannings wiederum, dein Alter Ego in zwei der Sequels, ist ein Cop, der tatsächlich Polizeiarbeit macht und sich um die kleinen und grossen Probleme seiner Heimatstadt kümmert.

Lloyd und seine Freunde ermitteln.
Lloyd und seine Freunde ermitteln.
Quelle: Nihon Falcom

Diese werden von gleichermassen grossartig geschriebenen NPCs an dich herangetragen. Nahezu alle davon haben ihre eigene kleine Geschichte, die die Basis für die Nebenquests liefern. Die Nebenaufgaben machen rund ein Drittel der Spielzeit aus, sind oftmals mehrschichtig und erweitern den Hauptplot um zusätzliche Infos.

Wer keinen Auftrag für dich hat, hat zumindest etwas Interessantes zu erzählen, wobei hier vor allem beeindruckend ist, wie reaktiv die Welt von «The Legend of Heroes» ist. Nach wichtigen Story-Events erhalten fast alle NPCs neue Dialoge, die Bezug darauf nehmen, was gerade so läuft.

Andere Spiele: «Der Palast wurde angegriffen.»
NPC: «Schönes Wetter heute.»
Trails: «Der Palast wurde angegriffen»
NPC: «Oh Gott, meine Cousine arbeitet dort, ich hoffe, es geht ihr gut!»

Eine Frage der Zeit

Dass «The Legend of Heroes» auf so vielen Ebenen funktioniert, ist zu einem grossen Teil der hervorragenden Lokalisierung zu verdanken. Die Unterhaltungen klingen wie echte Gespräche und die Lore-Dumps bleiben spannend, auch wenn sie oftmals etwas arg in die Länge gezogen werden.

Zeit brauchst du aber ohnehin eine ganze Menge. Die Serie ist in mehrere Arcs unterteilt: «Trails in the Sky» (3 Spiele), «Zero/Azure» (2 Spiele), «Cold Steel» (4 Spiele), Reverie (1 Spiel) und aktuell «Daybreak» (3 geplante Spiele). Jede Arc erzählt ihre eigene Geschichte, die aber untereinander direkt verbunden sind.

Addierst du die durchschnittliche Spielzeit der Games gemäss der Datenbank von howlongtobeat.com, kommst du auf total über 800 Stunden.

«Legend of Heroes» ist damit mehr als ein JRPG – es ist eine Saga im Stil von George R.R. Martins «A Song of Ice and Fire» (nur dass Falcom tatsächlich Spiele veröffentlicht, anstatt in Blogposts über Baseball zu labern).

Es braucht ein Investment, aber dieses zahlt sich aus. Je mehr Spiele der Serie du spielst, desto grösser wird der emotionale Pay-Off. Charaktere, die man in «Trails in the Sky» als Kinder kennengelernt hat, tauchen in «Trails of Cold Steel» als Erwachsene auf und Themen, die irgendwann mal nebensächlich angeschnitten wurden, werden zu zentralen Plotpoints.

Eine Liebeserklärung an geduldige Gamer

Die «Legend of Heroes»-Serie ein faszinierendes Unikat: Eine nischige JRPG-Serie, die es wagt, von ihren Spielern ein zeitliches Commitment zu verlangen, das sonst eigentlich nur Online-Games vorbehalten ist.

Ist es für jeden? Definitiv nicht. Ist es perfekt? Oh boy, kein bisschen. Die Dialoge können ermüdend sein, die Anime-Bullshit-Tropes späterer Releases nerven regelmässig und wer die komplette Story sehen will, braucht zwölf Wochen Ferien.

Wenn du nach diesem Erguss aber findest «Das ist genau mein Ding», dann serviert dir Nihon Falcom am 19. September 2025 den perfekten Einstieg mit dem Remake von «Trails in the Sky». Hier kannst du Estelles und Joshuas erstes Abenteuer in einer modernen Technik und mit einem zeitgemässen Gameplay erleben.

Gerade letzteres war bis dahin für viele Interessierte eine zusätzliche Hemmschwelle. So grossartig und episch die Story von «Legend of Heroes» auch ist, ihre Anfänge liegen unter einem einigermassen antiquierten Gameplay begraben. Ob dir die überarbeitete Version des Remakes zusagt, kannst du selber herausfinden.

In den Online Stores von Playstation, Nintendo und Steam wartet eine grosszügige Demo auf dich, in der du Zemuria für rund zehn Stunden lang microdosen kannst. Und damit kratzt du noch nicht mal an der Oberfläche. Deinen Fortschritt nimmst du später übrigens mit in die Vollversion, sofern du diese kaufst (Spoiler: Wirst du, ziemlich sicher).

«The Legend of Heroes» ist nicht einfach nur eine Spieleserie. Es ist das ambitionierteste Storytelling-Experiment in der Singleplayer-Gaming-Geschichte und es ist noch lange nicht vorbei. Sag nicht, ich hätte dich nicht gewarnt.


Anmerkung des Redaktors: Die Bezeichnung «längste Story im Gaming» ist diskutabel. «The Legend of Zelda» hat eine offizielle Timeline die bis in die 80er zurückgeht, die Geschichte von «Street Fighter» hat ebenfalls mehr als 30 Jahre auf dem Buckel und der Narrativ von «World of Warcraft» hat streng genommen bereits 1994 mit «Warcraft: Orcs & Humans» begonnen.

Was «The Legend of Heroes» allerdings von diesen langlebigen Gaming-Franchises unterscheidet, ist die kontinuierliche, zusammenhängende Erzählung ohne Unterbrechungen oder Neuanfänge. Jedes neue Spiel baut direkt auf den Ereignissen der Vorgänger auf – wie Kapitel eines gigantischen Romans. Diese ununterbrochene Kontinuität über mehr als 20 Jahre hinweg macht die Serie einzigartig im Gaming-Kosmos.

Wahrscheinlich wäre der Titel «Die JRPG-Serie mit der längsten zusammenhängenden und kontinuierlichen Erzählung ohne Neuanfänge, Reboots oder narrative Unterbrechungen in der Geschichte des Videospiels» korrekter. Aber halt auch nicht so catchy.

Titelbild: Falcom

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In den frühen 90er-Jahren vererbte mir mein älterer Bruder sein NES mit «The Legend of Zelda» und startete damit eine Obsession, die bis heute anhält.


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