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Wimbledon ersetzt Linienrichter durch Computer
von Kim Muntinga
Wimbledon hat menschliche Linienrichter abgeschafft. Doch die KI-Lösung gerät nach einem Zwischenfall im Match Pavlyuchenkova gegen Kartal unter Beschuss und sorgt für Frust.
Menschliche Linienrichter sind in Wimbledon seit diesem Jahr Vergangenheit. Das traditionsreichste Tennisturnier der Welt setzt jetzt vollständig auf das automatisierte System «Electronic Line Calling» (ELC). Darüber habe ich dir bereits im vergangenen Jahr berichtet.
Kurz zusammengefasst: Die Technologie basiert auf der bewährten Hawk-Eye-Plattform und ersetzt die Linienrichter durch ein Netzwerk aus 18 Hochgeschwindigkeitskameras pro Platz. Das System erkennt Ballpositionen und Fußfehler in Echtzeit. Die Entscheidungen gibt es über Lautsprecher mit synthetischer Stimme aus.
Was auf dem Papier nach Effizienz klingt, sorgt auf dem Rasen für Diskussionen. Denn das KI-System ist nicht fehlerfrei.
Im Achtelfinale zwischen der Russin Anastasia Pavlyuchenkova und der Britin Sonay Kartal kam es zu einem folgenschweren Aussetzer. Beim Stand von 4:4 im ersten Satz bei Vorteil Pavlyuchenkova landete ein Ball von Kartal deutlich im Aus. Doch das System reagierte nicht. Stattdessen ertönte kurz darauf ein verwirrendes «Stop, stop» aus den Lautsprechern. Der Punkt wurde abgebrochen und wiederholt, obwohl Pavlyuchenkova ihn eigentlich gewonnen hätte. Kartal holte sich das Spiel zum 5:4. Letztlich gewann die Russin allerdings den ersten Satz im Tiebreak und entschied auch den zweiten mit 6:4 und somit das Match für sich.
Wie der Guardian berichtet, war der Grund für den Fehler kein technisches Versagen der KI, sondern ein Bedienfehler: Ein Operator hatte das ELC-System auf Pavlyuchenkovas Seite versehentlich deaktiviert. Die Turnierleitung bestätigte dies in einem offiziellen Statement gegenüber Sky Sports.
Zudem stellte sich die Wimbledon-Chefin Sally Bolton den Medien. In einer fast ausschließlich auf das ELC fokussierten Pressekonferenz betonte sie mehrfach, dass es sich um einen «rein menschlichen Fehler» gehandelt habe. Die Protokolle seien inzwischen angepasst worden, um ähnliche Vorfälle künftig zu verhindern. Abgesehen von diesem Vorfall, so Bolton, funktioniere das System zuverlässig.
Der Vorfall hat eine Debatte ausgelöst, wie mit Technologieversagen im Spitzensport umzugehen ist. Der Guardian hebt hervor, dass der Fall die Notwendigkeit von Notfallplänen unterstreicht – etwa die Möglichkeit, bei Systemausfällen auf Video-Replays oder Schiedsrichterentscheidungen zurückzugreifen. Derzeit ist das in Wimbledon nicht vorgesehen.
Anstatt als Fortschritt gefeiert zu werden, stand das neue System in Wimbledon von Beginn an und schon vor diesem Vorfall unter Druck: Der All England Lawn Tennis Club (AELTC) sah sich bereits in der ersten Turnierwoche gezwungen, die Einführung der KI-gestützten Linienrichtertechnologie zu verteidigen. Kritische Stimmen und mediale Debatten bestimmten die Schlagzeilen und das Vertrauen in die Technologie geriet ins Wanken.
Besonders heikel: Die beiden britischen Topspieler Jack Draper und Emma Raducanu äußerten nach ihren Niederlagen deutliche Kritik am System. Beide waren überzeugt, dass falsche Entscheidungen zu ihren Ungunsten getroffen wurden. Raducanu sagte nach ihrem Aus in der dritten Runde: «Es ist schon enttäuschend, dass die Entscheidungen bei diesem Turnier so falsch sein können. In meinen anderen Spielen gab es auch einige, die sehr daneben lagen.»
Dabei war die Stimmung gegenüber dem ELC-System ursprünglich positiv. Seit seiner Einführung auf Hartplätzen lobten viele Profis die höhere Genauigkeit im Vergleich zu menschlichen Linienrichtern. Doch nach mehreren umstrittenen Szenen in der ersten Wimbledon-Woche auf dem heiligen Londoner Rasen äußerten sich Spielerinnen, Spieler und Trainer zunehmend skeptisch. Sowohl öffentlich als auch hinter den Kulissen wurde die Zuverlässigkeit des Systems infrage gestellt.
Ob das Vertrauen in die Technologie bis zum Ende des Turniers wiederhergestellt werden kann, bleibt offen.