
«Se7en» im IMAX: Warum Finchers Meisterwerk auch nach 30 Jahren schockiert
30 Jahre nach seiner Premiere kehrt «Se7en» zurück ins IMAX-Kino – und mit ihm die tief verstörenden Fragen, die uns seit Jahrzehnten nicht loslassen: Kann eine Welt wie diese noch gerettet werden?
«Die Welt ist ein schöner Ort», schrieb einst Ernest Hemingway, «und es lohnt sich, für sie zu kämpfen.» Detective William Somerset, gespielt von Morgan Freeman, stimmt nur dem zweiten Teil zu. Die Strommasten in der vorstädtischen Steppe sind kaum mehr zu sehen; die Dämmerung ist beinahe zur Nacht geworden. Das Verbrechen, das soeben stattgefunden hat, wird sich für immer in sein Gedächtnis brennen.
Ende von «Se7en».
Ich weiss noch genau, wie ich David Finchers Meisterwerk in meinen frühen Jugendjahren zum ersten Mal gesehen habe. Geschockt war ich. Bis aufs Mark. Und doch wusste ich: Das war er. Der perfekte Film. Tolles Drehbuch. Grossartige Schauspieler. Wahnsinns-Regie. Und die vielleicht beste Detektivgeschichte, die je erzählt worden ist.
Im Januar kommt «Se7en» zum 30-jährigen Jubiläum zurück ins Kino. Aber nicht in einem x-beliebigen, sondern im beeindruckenden IMAX-Format – zum ersten Mal in seiner Geschichte. In Kooperation zwischen Digitec Galaxus, Pathé Schweiz und The Ones We Love – und mit freundlicher Unterstützung von Warner Bros. – auch in der Schweiz in allen Pathé-Kinos mit IMAX-Leinwand. Hier kriegst du Tickets und eine Übersicht über die Spieldaten. Die Vorstellung ist auf Englisch und ohne Untertitel.
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Während ich mich wie irre auf die Wiederaufführung freue, kann ich nicht anders, als mich zu fragen, was die immer noch anhaltende Faszination des Films ausmacht.
Ein Erklärungsversuch – mit Spoilern.
Eine Stadt der Sünden
Zuerst ist da die Stadt. Düster, schmutzig und bedrückend – eine allgegenwärtige, klaustrophobische Bedrohung. Fincher gibt ihr keinen Namen. Keinen zeitlichen Rahmen. Keine erkennbaren Wahrzeichen oder kulturellen Besonderheiten. Stattdessen wird sie von endlosen Strassenzügen und gesichtslosen Wohnblocks dominiert. Manche davon bewohnt. Andere verlassen. Das einzige, was die grauen Blocks verbindet, ist ein ständiger Verkehrsstrom und Gassen voller zwielichtiger, heruntergekommener Gestalten und ein nie enden wollender Regen.
«Se7en» spielt in keiner Stadt – er spielt in jeder Stadt.
Genau da treffen zwei Männer aufeinander, die unterschiedlicher nicht sein könnten. Detective Somerset (Morgan Freeman) ist ein Mann voller Erfahrung, aber auch schwerer Müdigkeit, der kurz vor seinem wohlverdienten Ruhestand steht. Eine Woche muss der zynische alte Mann noch durchstehen. Eine gottverdammte Woche. Dann übernimmt sein Nachfolger, der zweite Mann, Detective Mills (Brad Pitt). Mills ist gerade erst in die Stadt gezogen – jung, ungestüm und ehrgeizig. Mit ihm kommt auch seine Ehefrau Tracy (Gwyneth Paltrow), die sich in der anonymen Stadt aber sichtlich unwohl fühlt.

Quelle: Warner Bros.
Gleich an Mills' erstem Tag wird er zusammen mit Somerset an einen Tatort gerufen, der verstörender kaum sein könnte: Ein 180 Kilo schwerer Mann, das Gesicht in einen Teller Spaghetti gedrückt, ist an inneren Blutungen gestorben. Er wurde gezwungen, zu essen – bis das Essen seinen Magen zum Bersten brachte. Die Botschaft, die dieser Mord trägt, ist ebenso grausam wie präzise:
Masslosigkeit.
Als kurz darauf zwei weitere Morde geschehen, nicht minder verstörend, erkennt Somerset das Muster: Jeder Tat liegt eine der sieben Todsünden zugrunde. Hochmut, Habgier, Neid, Zorn, Wollust, Trägheit – und eben Masslosigkeit. Die Mordserie? Sie ist noch nicht vorbei.
So führen die Ermittlungen Somersets und Mills sie immer tiefer in eine schmutzige, vom Regen gepeitschte Stadt voller Verfall und Abschaum. Die unversöhnliche Spannung zwischen Somerset und Mills bildet dabei den Puls, der den Film antreibt. Auf der einen Seite Somerset, müde und enttäuscht von der Welt, doch geleitet von einer tiefen Integrität und Sinn fürs Richtige. Auf der anderen Mills, impulsiv, naiv und idealistisch, und manchmal sogar blind vor Emotionen. Sie sind zwei Extreme, die uns zeigen, wie fragil der Grat zwischen Vernunft und Verzweiflung ist.
Zwischen Gut und Böse.
Und wenn «Se7en» etwas gelingt, dann die quälende Frage aufzuwerfen, die uns bis heute rastlos lässt: Wie würden wir in einer solchen Welt voller Grausamkeit und Verfall reagieren? Mit stoischer Vernunft, übermannender Verzweiflung – oder mit unbändiger Wut?
Ein Kampf im Inneren
Am Ende stehen sie dem Mörder selbst gegenüber – einem Mann, der ebenso gefährlich wie kalkuliert agiert: John Doe, wahrhaftig teuflisch von Kevin Spacey gespielt. Damals traf das die Leute wie ein Schock; sein Name wurde bewusst aus jeglichen Trailern und allem Werbematerial herausgelassen. Selbst im Vorspann des Films taucht er nicht auf. So, dass das Publikum nicht anders konnte, als scharf und entsetzt Luft zu holen, wenn Spacey als grosser, kranker Antagonist des Films enthüllt wird.
Bis dahin bleibt er den grössten Teil des Films zwar unsichtbar, seine Präsenz durchdringt aber trotzdem jede Szene. Spielend. John Doe ist nämlich kein gewöhnlicher Bösewicht. Er ist eine Warnung, wie weit Überzeugung gehen kann, wenn sie sich ohne Moral auf eine düstere, verdrehte Mission begibt: Die Gesellschaft aufzuwecken, ihr den Spiegel vor Augen zu halten und sie an ihre Werte zu erinnern.
«Wir sehen eine Todsünde an jeder Strassenecke, in jedem Haus, und wir tolerieren sie. Wir tolerieren sie, weil sie alltäglich ist, trivial, morgens, mittags und nachts», erklärt Doe im Film. «Nun, nicht mehr. Ich gehe mit gutem Beispiel voran. Was ich getan habe, wird analysiert, studiert und nachgeahmt werden ... für immer.»

Quelle: Warner Bros.
John Doe will die sieben Todsünden bestrafen und so eine bessere Welt erschaffen – um jeden Preis. Aus seiner Sicht ein hehres Ziel. Was Doe aber wirklich erschreckend macht, ist nicht nur seine Intelligenz oder seine Skrupellosigkeit. Sondern die Tatsache, dass er einen Nerv trifft: Wir werden gezwungen, uns selbst mit der unbequemen Frage auseinanderzusetzen, ob wir unsere Werte, die uns ausmachen sollten, tatsächlich aus den Augen verloren haben.
«Wir sehen eine Todsünde an jeder Strassenecke – und wir tolerieren sie», hallt es mir erneut durch den Kopf.
Das Drehbuch von Andrew Kevin Walker lässt diese Frage im Raum stehen, ohne einfache Antworten zu geben. Stattdessen erleben wir, wie Somerset und Mills unterschiedlich auf Does Manipulation reagieren; ein Kommentar darauf, wie Walker die Gesellschaft einschätzt und sie in zwei Kategorien einteilt. Somerset bleibt kühl und behält seinen Verstand, selbst wenn er mit den schrecklichsten Seiten der Menschheit konfrontiert wird. Mills hingegen wird zum Opfer seiner Emotionen. Auf welcher Seite wir uns schlagen, bleibt uns selbst überlassen.
«What’s in the box?» brennt sich derweil ins kollektive Filmgedächtnis.
Das Erbe des Bösen
Im Finale, einem der unvergesslichsten Momente der Filmgeschichte, macht Mills also genau das, was John Doe wollte: Er verliert die Kontrolle und erschiesst Doe. Das war Teil des Plans. Doe war nämlich eifersüchtig auf Mills. Darauf, dass Mills geliebt wurde – und Doe nicht. Darum enthauptete er dessen Frau. Steckte ihren Kopf in eine Kiste. Rieb Mills sogar unter die Nase, dass sie schwanger war, was Mills bis dahin gar nicht wusste. Und unterwarf sich so dem «göttlichen» Urteil seines Opfers.
Mit diesem letzten Akt hat Mills nicht nur Doe erlöst, sondern auch seine eigene Seele geopfert – und Doe hat der Welt gezeigt, wie leicht wir doch alle brechen.

Quelle: Warner Bros.
Ist es die unausweichliche Eskalation, die das Ende von «Se7en» so sehr nachwirken lässt? Vielleicht. Oder auch. Für mich ist es dessen Tragik. Denn wo der Tod des so schrecklichen und skrupellosen Antagonisten eigentlich ein Grund zur Freude wäre, bedeutet er hier, dass John Doe letztlich doch gewonnen hat. Dass sein «Meisterwerk» vollendet wurde.
Das ist es, was «Se7en» so erschütternd macht.
Es ist keine simple Geschichte über Gut und Böse, sondern eine über uns Menschen – über unsere Fehler, unsere Schwächen, unsere Wut und unsere Verzweiflung. Eine Geschichte, in der die Welt selbst wie ein unerbittlicher Gegner wirkt, der jede Hoffnung zu zerschlagen scheint. Somerset glaubte, diese Welt, die er für verloren hielt, hinter sich lassen zu können. Doch in diesen letzten Tagen wird ihm klar: Die Welt ist nicht verloren. Nicht, solange Menschen wie Mills darin sind. Doch ohne die Führung derer, die Vernunft bewahren, werden auch sie untergehen. Deshalb braucht es Somerset noch. Vielleicht nicht für immer. Aber für eine Weile.
«Wir kümmern uns um ihn», sagt der Polizeichef, als Mills abgeführt wird. «Alles, was er braucht», antwortet Somerset. «Wo wirst du sein?», fragt der Polizeichef schliesslich. «In der Nähe», seufzt Somerset leise ...
«Ich werde in der Nähe sein.»
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Abenteuer in der Natur zu erleben und mit Sport an meine Grenzen zu gehen, bis der eigene Puls zum Beat wird — das ist meine Komfortzone. Zum Ausgleich geniesse ich auch die ruhigen Momente mit einem guten Buch über gefährliche Intrigen und finstere Königsmörder. Manchmal schwärme ich für Filmmusik, minutenlang. Hängt wohl mit meiner ausgeprägten Leidenschaft fürs Kino zusammen. Was ich immer schon sagen wollte: «Ich bin Groot.»