
Ratgeber
Sturm und Drang: Darum ist die Trotzphase so wichtig für dein Kind
von Patrick Vogt
Bereits Einjährige krabbeln zu manchen Kindern lieber hin als zu anderen. Sie knüpfen erste Freundschaften. Wie dein Kind leichter Anschluss findet und was du tun kannst, wenn es ausgeschlossen wird.
Manche Menschen passen uns besser als andere. Das beginnt ganz früh im Leben. Schon Einjährige fühlen sich zu bestimmten Kindern stärker hingezogen als zu anderen: Sie krabbeln öfter zu ihnen hin. Sie lächeln sie mehr an. Sie trösten sie häufiger, wenn sie traurig sind.
Daraus entstehen erste Freundschaften, manche davon halten ein ganzes Leben lang.
Freundschaften sind bereits für Kinder sehr wichtig. Mit Gleichaltrigen entwickeln sie soziale und kognitive Fähigkeiten. Mit Freunden lernen Kinder etwas auszuhandeln und fair zu streiten. «Kinder spielen mit Freunden komplexere und kooperativere Spiele als mit Nichtfreunden», schreibt der Psychologe Robert Siegler im Lehrbuch «Entwicklungspsychologie im Kindes- und Jugendalter». Da werden an einem Mittwochnachmittag ganze Welten erfunden: Die blaue Bettdecke wird zum Meer. Der Couchtisch verwandelt sich in eine Unterwasserhöhle. Wer darf die Rolle von Nemo übernehmen? Wer mimt Dory?
Freunde spielen aber nicht nur mehr miteinander. Sie raufen und streiten auch öfter als Nichtfreunde. Gleichzeitig lösen Freunde ihre Konflikte häufiger auf konstruktive Weise; sie verhandeln oder geben nach. Oft finden sie laut Siegler Lösungen, mit denen beide Seiten zufrieden sind.
Kinder suchen sich meistens Freunde, die ihnen ähnlich sind: Sie sind normalerweise etwa im gleichen Alter. Sie haben in der Regel dasselbe Geschlecht und kommen aus dem gleichen Kulturkreis. Das gilt auch für Charaktereigenschaften und Fähigkeiten: Geselligkeit, Kooperativität, Aggressivität und sogar Schulmotivation sind unter Freunden oft ähnlich stark oder schwach ausgeprägt.
Kinder, die gute und stabile Freundschaften haben, werden von ihren Klassenkameraden oft als kompetenter, reifer und weniger aggressiv eingeschätzt. Schliessen kooperativere Kinder einfach leichter Freundschaft mit anderen verhandlungsbereiten Kindern? Oder führt die Freundschaft selbst dazu, dass die Kinder kooperativer werden und weniger in Raufereien verwickelt sind? Was zuerst kommt, lässt sich schwer sagen.
Wenn Kinder klein sind, ergeben sich Freundschaften meistens aufgrund von räumlicher Nähe. Das Nachbarsmädchen wird zur liebsten Spielkameradin, Leo aus der Krippe zum besten Buddy. Freundschaft bedeutet für Kinder in diesem Alter, dass sie aktiv miteinander etwas tun: Gummitwist spielen. Kastanien sammeln. Velorennen veranstalten. Schlümpfe sortieren. Später geht es auch um Loyalität, Verständnis und Vertrauen: Eine Freundin ist jemand, mit der ich ein Geheimnis teile. Ein Freund ist jemand, auf den ich zählen kann.
Nicht immer sind Eltern glücklich darüber, mit wem sich ihr Kind anfreundet. Doch sollen Eltern sich einmischen? Nein, finden Julia Dibbern und Nicola Schmidt in ihrem Elternratgeber «Wild World». Wenn dein Kind Verhaltensweisen von Freunden nach Hause bringt, die du nicht tolerierst, dann solltest du das mit ihm besprechen. Du kannst ihm erklären, warum ihr das in der Familie anders macht.
Gerade weil Freundschaften so wichtig sind, lösen Schwierigkeiten und Streit starke Emotionen aus. Wenn die Banknachbarin einen auslacht. Wenn das Kind nicht gleich Anschluss findet in der neuen Klasse. Wenn die beste Freundin plötzlich lieber mit jemand anderem spielt. Es ist nicht leicht, das eigene Kind traurig zu sehen. Trotzdem: Eltern sollten nicht in jedem Fall eingreifen. Manche Weltuntergangsstimmung ist am nächsten Tag längst wieder vergessen. Oft finden Kinder untereinander Lösungen, auf die Erwachsene gar nicht erst kommen. Kinder können viele Situationen alleine klären, schreiben auch Dibbern und Schmidt. «Ich habe das alleine geschafft» sei genauso wichtig wie «meine Eltern sind immer für mich da».
Aber eben: Kinder müssen spüren, dass du ihnen aufmerksam zuhörst. Sie müssen wissen, dass du zu ihnen stehst. Dass sie nicht mit ihren Gefühlen alleine sind.
Was aber, wenn die Tochter plötzlich immer weniger von den Klassenkameraden erzählt? Wenn sie regelmässig über Bauch- und Kopfschmerzen klagt? Wenn sie nicht mehr gut schläft? Wenn Kinder systematisch ausgegrenzt und fertiggemacht werden, gilt es Augen und Ohren offen zu halten. Es ist wichtig, das Gespräch mit dem Kind zu suchen und auf solche Anzeichen zu achten. Frage dein Kind, ob es Hilfe möchte. Ein Gespräch mit der Lehrerin oder dem Lehrer ist ein erster Schritt. Das Wichtigste: Das Kind muss wissen, dass seine Not ernst genommen wird. Es muss spüren, dass sein Zuhause ein sicherer Ort ist. Ein Ort, an dem es über alles reden kann. Ein Ort, an dem es so angenommen und geliebt wird, wie es ist.
Wie leicht Kinder Freundschaften schliessen, hängt von verschiedenen Faktoren ab: Persönlichkeit und Temperament des Kindes spielen eine wichtige Rolle, wie Robert Siegler schreibt. Aber nicht nur: Auch die Eltern beeinflussen mit ihrem Verhalten, wie sozial kompetent ihre Kinder werden. Gerade, wenn die Kinder noch sehr klein sind, sind Mütter und Väter sozusagen die «sozialen Türsteher»: Sie entscheiden, wie oft die Tochter andere Kinder antrifft. Sie bestimmen, mit welchen Kindern der Sohn am häufigsten spielt. Je nach Kultur ermutigen Eltern ihre Kinder dabei mehr oder weniger. Sie haben unterschiedliche Erwartungen an die sozialen Fähigkeiten, die es entwickeln soll: Lernt mein Kind selbst, für seine Rechte einzustehen, oder mische ich mich ein? Soll ich warten, bis es selbst die Initiative ergreift oder übernehme ich das für mein Kind?
Wer häufig Gspänli treffen und in der Nachbarschaft spielen darf, ist in der Regel aufgeschlossener und sozialer als andere Kinder. Diese Kinder gehen leichter auf andere zu und haben eher eine feste Gruppe von Spielkameraden. Wichtig ist, dass Eltern nicht zu rasch eingreifen. Hat der Nachbarsbub Lisa die Sandschaufel weggenommen? Falls Lisa von sich aus Hilfe sucht, kann Papi gemeinsam mit ihr einen Lösungsvorschlag suchen. Das geht ohne sich aktiv einzumischen. Am besten: Zuerst einmal schauen, ob Lisa die Schaufel nicht ganz alleine zurückholen kann. So lernen Kinder am besten, in sozialen Situationen zurechtzukommen. Die Freundschaft kommt dann ganz von alleine.
Journalistin und Mutter von zwei Söhnen, beides furchtbar gerne. Mit Mann und Kindern 2014 von Zürich nach Lissabon gezogen. Schreibt ihre Texte im Café und findet auch sonst, dass es das Leben ziemlich gut mit ihr meint.<br><a href="http://uemityoker.wordpress.com/" target="_blank">uemityoker.wordpress.com</a>