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Nichts ist, wie es scheint

Pia Seidel
24.06.2019

Ich wurde getäuscht, aber im positiven Sinne: Auf den Messen «Design Miami/Basel» und «Liste» habe ich Objekte gesehen, die erst bei genauem Hinsehen verraten haben, wie besonders sie sind.

Vor Kurzem wurde meine Wahrnehmung mehrmals auf die Probe gestellt. Antizyklisch habe ich nicht etwa die internationale «Art Basel», sondern die begleitenden Messen besucht: die «Design Miami/Basel» für High-End-Design und die «Liste» für zeitgenössische Jungkunst. Diese sind um einiges kleiner und für mich persönlich angenehmer. Weniger Menschen, überschaubare Räume und von Reizüberflutung keine Spur. Wo ich unter anderen Umständen wahrscheinlich an vielem vorbeigelaufen wäre, konnte ich mir dieses Mal Zeit nehmen und genauer hinsehen – zum Glück! Denn viele der Objekte haben mich erst auf den zweiten Blick umgehauen.

Blumen mit Ecken und Kanten

Es kommt häufig vor, dass Blumen auf Messeständen zu sehen sind. Deswegen stempel ich sie meistens als Deko ab. Dieses Mal liege ich mit dieser Annahme falsch. Die Blumensträusse von Catarina Tognon sind aus Glas. Die italienische Künstlerin kreiert Stilleben, die täuschend echt wirken. Die Reproduktionen von welken Schnittblumen sind so realistisch, weil sie trockene Zweige und sogar herunter gefallenen Blütenblätter abbilden. Die gelernte Biologin kennt unterschiedlichste Arten von Flora und Fauna und bildet sie absichtlich unvollkommen ab. Wie so oft liegt genau darin die Schönheit.

Täuschend echt: «Lilla Tabasso Agapanthus» ist eine Murano-Glaskreation von Caterina Tognon.
Täuschend echt: «Lilla Tabasso Agapanthus» ist eine Murano-Glaskreation von Caterina Tognon.
«Lilla Tabasso Autumn»: Die einzelnen Teile entstehen direkt über einer Flamme von Hand, damit die Künstlerin präzise arbeiten kann.
«Lilla Tabasso Autumn»: Die einzelnen Teile entstehen direkt über einer Flamme von Hand, damit die Künstlerin präzise arbeiten kann.

Verkehrte Welt

Für gewöhnlich wird Glas im Möbeldesign so eingesetzt, dass es von einer Basis aus weniger zerbrechlichen Materialien ummantelt wird. Mathieu Lehanneur hinterfragt dieses Prinzip mit seiner Kollektion «Inverted Gravity». Der französische multidisziplinäre Designer stellt mein gewohntes Bild eines Glastischs auf den Kopf: Anstelle von Metall, Stein oder Holz greift er für die Standbeine zu Glas und für die Tischplatte zu Marmor. Die Glaskreationen wirken wie Seifenblasen, die den schweren Stein zum Schweben bringen – und mich zum Staunen. Obwohl ich es gesehen habe, glaube ich immer noch nicht so ganz, dass die mundgeblasenen Globen die massiven Marmorblöcke wirklich halten.

Nur scheinbar zerbrechlich: Die Möbelkollektion «Invernted gravity» von Mathieu Lehanneur.
Nur scheinbar zerbrechlich: Die Möbelkollektion «Invernted gravity» von Mathieu Lehanneur.
Mundgeblasene Glaskreationen halten minimalistische Marmorblöcke.
Mundgeblasene Glaskreationen halten minimalistische Marmorblöcke.
Die Globen lassen die massiven Steinplatten leichter wirken, als sie sind.
Die Globen lassen die massiven Steinplatten leichter wirken, als sie sind.

Bewusster Umgang

Dass alte Laptop- und PC-Gehäuse nicht unbedingt auf dem Müll landen müssen, zeigen die Büromöbel «Ore Streams». Sie stammen vom italienischen Designduo Formafantasma, das untersucht, wie Elektromüll recycelt werden kann. Die beiden Vorreiter klären mittels parallel laufender Animationen darüber auf, wie Design zu einem umweltbewussten Umgang mit Ressourcen beitragen kann. Ihre Kollektion beeindruckt mich, weil sie Nachhaltigkeit aus einem neuen Winkel betrachtet. Obendrein beweist sie mir, wie hübsch so eine Aufbereitung aussehen kann. Die Schrottteile werden in Pastellfarben getaucht oder zu Aktenschränken veredelt.

Elektronikschrott in schön: Ein Schreibtisch aus der «Ore Streams» Kollektion vom Designstudio Formafantasma.
Elektronikschrott in schön: Ein Schreibtisch aus der «Ore Streams» Kollektion vom Designstudio Formafantasma.
Die alten PC-Gehäuse sind hier als Fächer eines Aktenschranks kaum wiederzuerkennen.
Die alten PC-Gehäuse sind hier als Fächer eines Aktenschranks kaum wiederzuerkennen.
Farben wie Gelb oder Aprikot lassen ehemalige Elektrogeräte im neuen Kleid strahlen – hier als Regal.
Farben wie Gelb oder Aprikot lassen ehemalige Elektrogeräte im neuen Kleid strahlen – hier als Regal.

«Ceci n'est pas une peinture à l'huile»

An einer Kunstmesse erwarte ich die ein oder andere Malerei. Deswegen war ich im ersten Moment nicht erstaunt, als ich an der Arbeit von Klára Hosnedlová vorbeilief. Je näher ich ihr kam, desto klarer wurde, dass es sich hier nicht um ein klassisches Ölgemälde handelt. Im Gegenteil: Die Bilder setzen sich aus zahlreichen Fäden zusammen. Von Hand stickt die tschechische Künstlerin Szenen aus dem Alltag. In diesen machen sich Frauen gerade zurecht oder pflegen sich. Ein intimer Einblick, der durch die Haptik der Oberfläche verstärkt wird. Zu gern möchte ich über die Fäden des Bildes streichen, wie sich die Frauen übers Gesicht.

Was von weitem wie ein Ölgemälde wirkt, sind in Wahrheit zahlreiche Fäden, die ein Bild ergeben.
Was von weitem wie ein Ölgemälde wirkt, sind in Wahrheit zahlreiche Fäden, die ein Bild ergeben.
«Untitled» aus der Serie «No Man's Land» besteht aus handgestickte Arbeiten in einem Terrazzorahmen von Klára Hosnedlovás.
«Untitled» aus der Serie «No Man's Land» besteht aus handgestickte Arbeiten in einem Terrazzorahmen von Klára Hosnedlovás.
Zusammen mit Möbeln und mundgeblasenen Glasleuchten von der Galerie Hunt Kastner aus Prag entsteht eine Art Ankleidezimmer.
Zusammen mit Möbeln und mundgeblasenen Glasleuchten von der Galerie Hunt Kastner aus Prag entsteht eine Art Ankleidezimmer.

Willkommenes Risiko

Dass ich einen Teppich als Kunst betrachten kann, zeigt mir die Arbeit «Prayer Carpet» von Igshaan Adams. Seine Webarbeit wirkt wie eine Skulptur oder ein Wandbild, das für den Boden viel zu schade ist. Auch besteht sie im Vergleich zu den meisten Teppichen nicht nur aus einem Material wie Schurwolle oder Hanf. Hier kommen mehrere Bestandteile zum Einsatz: Polyester, Holz, Nylon- und Baumwollschnüre sowie – besonders untypisch für Teppiche – Glasperlen. Der afrikanische Künstler arbeitet mit recycelten Schnüren, deren Farbverläufe unregelmässig und unberechenbar daherkommen. Das bringt ihm bei der Arbeit den gewünschten Überraschungseffekt und mir beim Ergebnis auch.

Im «Prayer Carpet» verstecken sich unerwartet neben Schnüren aus Nylon oder Baumwolle auch Glasperlen.»
Im «Prayer Carpet» verstecken sich unerwartet neben Schnüren aus Nylon oder Baumwolle auch Glasperlen.»
Teils wurden Gebetsteppiche in den Wandbildern weiterverarbeitet. Sie weisen Abdrücke von Knien oder Füssen auf.
Teils wurden Gebetsteppiche in den Wandbildern weiterverarbeitet. Sie weisen Abdrücke von Knien oder Füssen auf.

Weil man aufhören soll, wenn es am Schönsten ist, habe ich einen Besuch der eigentlichen Art Basel in diesem Jahr aufgeschoben. Nach all dem Augenschmaus der beiden parallel laufenden Messen habe ich mich mehr als zufrieden auf den Weg zurück nach Zürich gemacht. Folge mir, wenn du mich auf solche kommenden Ausstellungen begleitet möchtest und mehr Design sehen möchtest, das überrascht.

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Es gibt zwei Arten, sein Leben zu leben: entweder so, als wäre nichts ein Wunder, oder so, als wäre alles ein Wunder. Ich glaube an Letzteres.
– Albert Einstein


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