Simon Balissat
Kritik

«Ghost of Yōtei» im Test: Ist das noch Open World?

«Ghost of Tsushima» hat vor fünf Jahren für einen regelrechten Samurai-Hype gesorgt. Jetzt schlägt der Nachfolger «Ghost of Yōtei» das nächste Kapitel auf. Wird das Abenteuer von Protagonistin Atsu in Hokkaido den hohen Erwartungen gerecht?

«Ghost of Yōtei» ist wie eine dieser Kindheitserinnerungen, von denen ich ganz sicher bin, dass sie so stattgefunden hat. Urlaub in Italien, die Mutter raucht auf dem Weg im Gotthardtunnel Kette bei geschlossenen Fenstern und ich verballere mein Taschengeld in der Spielothek zwischen «Mortal Kombat» und Münzschieber. Es war der beste Urlaub meines Lebens.

So wirkt «Ghost of Yōtei» auf mich. Wie eine Kindheitserinnerung, die ein «Best Of» des Erlebten ist. Viel Neues ist seit «Ghost of Tsushima» nicht dazu gekommen und das ist gut so, habe ich es doch als mein perfektes Spiel bezeichnet. Es ist die cineastische Inszenierung einer Open World, die nach ganz klaren Mustern läuft. Eine offene Bühne für kurze oder längere Geschichten mit den klaren Regeln eines Videospiels.

Blumenhighway
Blumenhighway
Quelle: Simon Balissat

Während der Anspruch auf Realismus meinem Pferd bei «Red Dead Redemption 2» in der Kälte die Hoden schrumpeln lässt, dienen Blumenfelder in «Ghost of Yōtei» als Geschwindigkeitsboost für meinen Hengst. Vorsprünge, die ich kletternd erreichen kann, sind mit weisser Vogelkacke markiert. Schnellreisen ist nicht hinter unnötigen Gimmicks versteckt oder braucht Ressourcen. Brauche ich mehr Energie, schlage ich an Ort und Stelle ein Lager auf. Ressourcen leuchten verdächtig und ich stecke sie ohne unnötige Animation schwupps in die Tasche.

«Ghost of Yōtei» ist ein Videospiel und lässt mich das stets wissen. Das geht auf Kosten der Immersion, was mich am Schluss nie stört, weil «Ghost of Yōtei» so verdammt cool und leicht zugänglich ist. Aber von Anfang an.

Rache nehmen am Drachen und seinen Freunden

Wir schreiben das Jahr 1603. Ich spiele als Atsu, deren Familie vor sechzehn Jahren in ihrer Heimat Hokkaido vor ihren eigenen Augen ermordet wurde. Atsu überlebte den Mordanschlag, flüchtete auf Japans Festland und kämpfte in der Schlacht von Sekigahara als Söldnerin. Jetzt kehrt sie in ihre Heimat Hokkaido zurück, um sich an den sechs Mördern ihrer Familie zu rächen und zum legendären Geist von Yotei aufzusteigen.

Der Kitsune ist einer der sechs Hauptgegner
Der Kitsune ist einer der sechs Hauptgegner
Quelle: Sony

Als Fremde in der eigenen Heimat frage ich zunächst bei den Einheimischen um Hinweise, nehme Jobs als Kopfgeldjägerin an und lasse mich bei Meistern in Waffenkunst ausbilden. Die Einwohnerinnen und Einwohner versorgen mich mit Klatsch und Tratsch rund um die «Yotei Sechs» genannte Mördertruppe, die ich so nach und nach aufspüre und zur Selbstjustiz bringe.

Wie viel Freiheit braucht die offene Welt?

Fremde werden zu Freunden, die mich am Lagerfeuer besuchen oder im nächsten Dorf ihre Tipps und Waren anbieten. Im Gespräch erzählen sie von netten Badeteichen, Schreinen, Wolfshöhlen oder anderen Orten. Die markiere ich in einem simplen «weise den Schnipsel dem richtigen Fleck auf der Landkarte zu»-Spiel oder lege sie in einer Kartei ab, die als Questlog dient. An den so entdeckten Orten warten kleinere Aufgaben, die mir mehr Lebenspunkte, neue Talismane, Rüstungen oder andere Boni verschaffen.

So weit, so Open World. Das läuft stets ähnlich ab: hinreiten, einen Parcours absolvieren oder Gegner besiegen, Belohnung einstecken. Manchmal überrascht mich ein aufmüpfiger NPC, der mir bei der Suche helfen will und mir dann in den Rücken fällt. Oder ein Bär kommt plötzlich aus dem Dickicht gekrochen und greift mich an. Generell sind die Open-World-Ereignisse kurze Häppchen, aufs Wesentliche reduziert und trotzdem abwechslungsreich.

Linearer geht es in den sofort am goldenen Symbol erkennbaren Hauptmissionen zu und her. Die sind meist in abgeschlossenen Gebieten inszeniert, ich kann also nicht aus der Mission flüchten. Die Open World rückt in weite Ferne und macht Platz für gescriptetes Action-Spektakel.

Es krachen die Granaten auf mich ein, ganze Armeen unterstützen mich und wir gehen gemeinsam auf gegnerische Horden los, was dann meist im opulenten Eins-gegen-ins-Kampf endet. In den spektakulär inszenierten Duellen glänzen die Katanas im Sonnenuntergang und es wirbeln bunte Blätter durch die Luft. Eine wahre Freude.

Die Duelle sind grossartig inszeniert
Die Duelle sind grossartig inszeniert
Quelle: Domagoj Belancic

Andere Missionen erfordern geschicktes Herumschleichen und Abwarten, was dank einer «ich kann durch die Wände schauen»-Mechanik ein Kinderspiel ist. Oft kann ich dabei nicht wählen, ob ich aus dem Schatten oder mit erhobenem Schwert frontal in den Kampf gehe, das gibt mir das Spiel vor. Mal ist Schleichen gefragt, mal kommen die Gegner in Horden auf mich zu. Hier hätte ich als Fan von Rollenspielen mehr Flexibilität erwartet.

Hier wird es bald rumpeln, wetten?
Hier wird es bald rumpeln, wetten?
Quelle: Domagoj Belancic

Kitsch, soweit das Auge reicht

Grafisch ist «Ghost of Yōtei» auf den ersten Blick eine Wucht. Ja, es gibt kantige Schatten, ins leere blickende NPCs mit Plastikgesicht oder in die Berge clippende Bäume. Das fällt hier nicht so ins Gewicht, weil die gesamte Kulisse beeindruckend ist.

Wachsfigur oder NPC?
Wachsfigur oder NPC?
Quelle: Simon Balissat

Schon beim Vorgänger haben die Entwickler bewiesen, dass sie Japan pittoresk nachbilden können. Jetzt legt Sucker Punch noch einmal eine Schippe drauf. Das geht auf Kosten des Realismus. In den Gebieten sind alle vier Jahreszeiten vertreten, was jeglicher Logik entbehrt, aber für Abwechslung und Wow-Effekte sorgt. Mal reite ich durch schneebehangene Wälder, ein paar Kilometer weiter bedecken Kirschblüten die sanften Hügel. Um die Ecke sind die Bäume in tiefes Rot vom Herbstlaub getaucht und im nächsten Gebiet sind die Wiesen saftig grün und die Sonne brennt sommerlich.

Fernost-Kitsch, ja. Aber es sieht alles so schön aus!

Schliesse ich eine Mission ab, wechselt die Kamera auf einen weitwinkligen Bildausschnitt, der Motiv einer Postkarte sein könnte. Das tiefe Wumms einer Trommel und japanische Schriftzeichen, die der Wind sanft wegbläst, unterstreichen den Erfolg. Stehe ich vor einem Duell, zoomt die Kamera auf die Augenpartie der Duellierenden, als wäre es ein Samurai-Epos von Akira Kurosawa. Solche epischen Inszenierungen gelingen nur ganz wenigen Studios. «Ghost of Yōtei» reiht sich in Sachen grafischer Dramatik direkt ein neben Grössen wie «Elden Ring» oder «Death Stranding».

Postkartenwetter zum Abschluss der Mission
Postkartenwetter zum Abschluss der Mission
Quelle: Domagoj Belancic

Schere, Stein, hau rein

Vom Gameplay lässt sich das nicht behaupten. Während «Elden Ring» oder «Death Stranding» spielerisch oft sperrig sind, ist dieses Samurai-Abenteuer so zugänglich wie ein Dan-Brown-Roman.

Blocken, leichter Angriff, schwerer Angriff. Die verschiedenen Kampfstile aus «Tsushima» sind weg – dafür gibt es fünf verschiedene Waffen, die sich in einem Schere-Stein-Papier-System zueinander verhalten. Der lange Speer ist nützlich gegen die an Ketten befestigten Krallen, im Fachjargon Kusarigama. Um den Speer zu schlagen, brauche ich wiederum das doppelte Schwert. Kusarigama schliesslich sind effektiv gegen Schilde. Zwischen den Waffen wechsle ich zackig, gegnerische Einheiten warten ihre Angriffe geduldig ab. So entsteht ein Ballett aus Waffen wechseln, Blocken und ausweichen. Je höher der Schwierigkeitsgrad, umso mehr muss ich zu verschiedenen Schnellfeuerwaffen wie Wurfmesser oder Rauchbomben greifen, die mir etwas Abstand und Zeit verschaffen.

Hust, hust...
Hust, hust...
Quelle: Simon Balissat

Aus der Ferne habe ich zusätzlich noch zwei Pfeilbögen und eine Muskete zur Verfügung. Die Standardschwierigkeit «mittel» verzeiht dabei falsche Waffenwahl zunächst noch grosszügig. Den grössten Teil des Spiels habe ich auf der Stufe «tödlich» gespielt, die beim Vorgänger «Ghost of Tsushima» erst mit einem späteren Update nachgereicht wurde. Für mich die mit Abstand spassigste Stufe.

Ein bis zwei Treffer reichen bis zu meinem Tod. Aber auch meine Gegner sind keine Sandsäcke, die zwanzig Schwerthiebe wegstecken. Sie sind nach einem ungeblockten Schlag tot. Auge um Auge, Zahn um Zahn. Blindes Losstürmen ist das sichere Ende, taktischer Einsatz aller Waffen und Schnellfeuerwaffen Pflicht. In gewissen Situationen erhalte ich Unterstützung in Form eines Wolfes. Mehr sei nicht verraten, weil Spoiler.

Braves Wölfchen.
Braves Wölfchen.
Quelle: Simon Balissat

Zum Glück kein Rollenspiel

Dabei verzichtet «Ghost of Yōtei» zum Glück auf klassische Rollenspielelemente und Attribute wie «Stärke», «Intelligenz» oder «Geschicklichkeit». Stattdessen finde ich Rüstungen, die mir Vorteile bieten. Ich kann mit der einen Rüstung besser schleichen, bei einer anderen verursachen Kopftreffer mehr Schaden. Zusätzlich rüste ich verschiedene Talismane aus, die eigene Boni bieten und speichere diese Rüstungs- und Talisman-Kombinationen in einem von fünf Slots ab.

Einfacher und zugänglicher geht nicht. Das ermutigt mich zum ständigen Experimentieren mit neuen Builds. Auf Zahlen verzichtet «Ghost of Yōtei» dabei ganz. Statt «12,3% mehr Schaden» steht da dann «moderat mehr Schaden». Sorry für alle Spreadsheet-Min-Max-Freaks!

Gut ausgerüstet.
Gut ausgerüstet.
Quelle: Simon Balissat

Und schliesslich gibt es noch erlernbare Skills, die sich nach etwas anfühlen. Wer bei «God of War» ob der schieren Anzahl an Skills überfordert war, wird dieses Game lieben. Fast jeder investierte Skillpunkt macht sich sofort bemerkbar, indem ich etwa zwei statt einen Gegner lautlos ausschalten kann oder einen einfachen Combo freischalte, der mehr Schaden macht.

Halt dich an die Regeln!

Ebenso Pflicht ist für mich die gelungene japanische Sprachausgabe. Ja, ich habe ein paar Dialoge nicht richtig mitgeschnitten, weil ich die Untertitel in der Hektik nicht lesen konnte. Als JRPG- und Anime-Veteran bin ich das gewohnt. Aber es wirkt auf mich sonderbar, wenn japanische Samurai im 15. Jahrhundert Deutsch oder Englisch sprechen. So viel Immersion muss sein. Im Gegensatz zum Vorgänger stimmen jetzt auch die Lippenbewegungen in der japanischen Version.

Für den kompletten Samurai-Film-Kick sorgt der Soundtrack, der traditionelle Shamisen-Klänge im Italo-Western-Stil arrangiert und teilweise etwas tollpatschig mit zu kurzem japanischem Gesang kombiniert. Diese legendäre Szene aus Red Dead Redemption lässt grüssen. Nur konsequent, dauern auch diese Sequenzen etwas zu kurz, um Stimmung aufkommen zu lassen.

Hier liegt die grosse Stärke und zugleich das grösste Problem von «Ghost of Yōtei». Alles ist so reduziert, dass ich diese einzelnen Versatzstücke wahnsinnig toll und stimmungsvoll empfinde und ständig etwas passiert. Das bedingt klare Spielregeln, die ich auf keinen Fall brechen darf. Mehrmals bin ich vor einer Höhle gestanden, die ich nicht öffnen konnte, obwohl der Bretterverschlag davor anderes angedeutet hat. Erst zum richtigen Zeitpunkt liess sich die Höhle im Rahmen einer Story öffnen. Das macht das detaillierte Erkunden der Open World witzlos, weil ich auf verwaiste Schauplätze treffe. Sobald ich mich den Regeln wieder hingegeben habe und nur den Hinweisen gefolgt bin, die das Game auch vorsieht, hat sich mir die Welt wieder geöffnet.

Am Schluss bleibt nach 30 Stunden ein wunderschönes Samurai-Epos mit Ecken und Kanten, das beim Wesentlichen bleibt und Ballast weglässt. Ist es das perfekte Spiel? Auf gar keinen Fall. Die Ferien in Italien waren auch nicht die perfekten Ferien. Sie sind mir aber bis heute geblieben.

Wir haben «Ghost of Yōtei» in der neusten Folge unsere Podcasts Tech-telmechtel disktutiert, ab 35:46 beginnt die Diskussion.

Fazit

Die Open World ist tot, lang lebe «Ghost of Yōtei»

Die Welt von «Ghost of Yōtei» ist weitläufig, wunderschön und dient lediglich als Überbrückung für die verschiedenen Aufgaben, die ich darin erledige. Ist die Open World in anderen Spielen ein eigener Charakter, dient sie hier als Hingucker zwischen dem Abenteuer. Das stört mich nicht, so wunderschön ist dieses begehbare Menü gestaltet.

Hinter der kitschigen Fassade steckt ein Samurai-Action-Epos mit Atsu als Protagonistin, die mich als kühle und zerrissene Antiheldin in ihren Bann zieht. Die Story ist vorhersehbar, vieles ein einziges Videogame-Klischee. Egal. Ich mag das aufs Wesentliche reduzierte Kampfsystem und die zugängliche Art, wie ich zwischen den verschiedenen Archetypen auf Knopfdruck wechseln kann. Mal bin ich ein Ninja im Schatten, mal Scharfschützin und dann wieder menschlicher Panzer.

Eins bin ich immer: verdammt badass. Das mag manchen zu einfach und eindimensional sein. Mich holt die aufs Maximum reduzierte Samurai-Action absolut ab.

Pro

  • leicht zugängliches und flexibles Kampfsystem
  • wunderschön cineastische Präsentation
  • überraschende Nebenaufgaben
  • typische Rachestory

Contra

  • Open World wirkt oft als Fassade
  • grafische Unschönheiten
  • typische Rachestory
Sony Ghost of Yotei (PS5, DE, IT, FR)
Game
Neu
CHF72.–

Sony Ghost of Yotei

PS5, DE, IT, FR

Titelbild: Simon Balissat

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Als ich vor über 15 Jahren das Hotel Mama verlassen habe, musste ich plötzlich selber für mich kochen. Aus der Not wurde eine Tugend und seither kann ich nicht mehr leben, ohne den Kochlöffel zu schwingen. Ich bin ein regelrechter Food-Junkie, der von Junk-Food bis Sterneküche alles einsaugt. Wortwörtlich: Ich esse nämlich viel zu schnell. 


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