
Meinung
6 Vorschläge für deine Herbst-Lektüre
von Natalie Hemengül
Ehrlich währt am längsten? Ich finde: Ja. Aber nur, wenn man sich nicht wie ein Rambo verhält.
Nett hingegen ist bekanntlich der kleine Bruder von … du weisst schon. Das sagt viel darüber aus, welchen Stellenwert freundliches Verhalten in unserer Gesellschaft einnimmt. Möglicherweise liegt das daran, dass die beiden Begriffe – Ehrlichkeit und Freundlichkeit – oft so hingebogen werden, wie es gerade passt. Dabei sind sie keine Gegensätze, sondern gleichzeitig möglich.
Schauen wir uns kurz die Freundlichkeit an. In Wörterbüchern steht dazu: «sich den Mitmenschen gegenüber wohlwollend, entgegenkommend, gefällig zeigen». Hier liegt schon der Hund begraben. In «gefällig» steckt «gefallen». Man möchte gemocht werden. Und vor allem: Man möchte Harmonie.
Solche Menschen können durchaus feinfühlig und empathisch sein. Sie wechseln, schon bevor sie den Mund öffnen, die Perspektive. «Wie fühlt sich meine Äusserung für das Gegenüber wohl an?», fragen sie sich. Kommen sie zum Schluss, dass sich jemand gekränkt fühlen könnte, verpacken sie ihre Sätze in ein freundliches Schutzmäntelchen. So nett das auch ist: Es ist nicht ehrlich.
Was ist nun aber Ehrlichkeit? Sie wird in den Wörterbüchern mit «Aufrichtigkeit» und «Wahrhaftigkeit» beschrieben. Und hier steckt der Teufel in der «Wahrhaftigkeit». Was heisst wahrhaftig? Der Wahrheit entsprechend. Was bei unumstösslichen Gesetzmässigkeiten wie der Schwerkraft zutreffen mag, ist bei persönlichen Meinungen nicht allgemeingültig.
Wie wäre es also mit einem Mittelweg? Aufrichtig sein UND auf die Gefühle anderer Rücksicht nehmen? Ja, das geht – ohne, dass irgendeine Information verloren geht – so:
Am besten funktioniert das mit Ich-Botschaften und interessierten, unvoreingenommenen Nachfragen.
Dafür braucht es vor allem eines: Selbstbewusstsein. Wer sich selbst kennt (sich seiner selbst bewusst ist), hat weder impulsive Ausbrüche noch ein krampfhaftes Festhalten an Harmonie nötig. So jemand kann sich im richtigen Moment zurücknehmen – oder sich konstruktiv zu Wort melden. So jemand macht sich weder unglaubwürdig noch unsympathisch. Und sind wir mal ehrlich: Nur so jemandem öffnen sich Menschen wirklich.
Ich liebe alles, was vier Beine oder Wurzeln hat – besonders meine Tierheimkatzen Jasper und Joy sowie meine Sukkulenten-Sammlung. Am liebsten pirsche ich auf Reportagen mit Polizeihunden und Katzencoiffeurinnen umher oder lasse in Gartenbrockis und Japangärten einfühlsame Geschichten gedeihen.
Hier liest du eine subjektive Meinung der Redaktion. Sie entspricht nicht zwingend der Haltung des Unternehmens.
Alle anzeigen«Ich bin ja nur ehrlich.» Wenn ich das höre, könnte ich k…reischen. Meist sagen es Menschen, die anderen direkt ins Gesicht ballern, was ihnen durch den Kopf geht. Als ob die ganze Welt auf ihren geistigen Erguss gewartet hätte. «In diesem Kleid siehst du fett aus», «Wie kann man so etwas nicht wissen?!», «Dein Meeting war lächerlich!» oder «Echt, DAS gefällt dir?! Cringe!» Ehrlichkeit scheint oft die Ausrede dafür zu sein, sich rücksichtslos zu verhalten.
Gemäss der Bindungstheorie können sich Unstimmigkeiten für unsichere oder (über)angepasste Menschen gefährlich anfühlen. Möglicherweise hatten sie sehr strenge, kritisierende Bezugspersonen. Widersprachen sie oder lehnten sich auf, folgten harte Strafen. So entwickelten sie sich zu «People Pleasern», die sich nach anderen richten.
Not Nice: Stop People Pleasing, Staying Silent, & Feeling Guilty... And Start Speaking Up, Sayi
Englisch, Aziz Gazipura, 2017
Nur, weil ich ein Kleid hässlich finde, muss es nicht hässlich sein. Persönliche Wahrnehmungen sind weder richtig noch falsch. Jeder und jede konstruiert sich eine eigene Realität. Die muss nicht geäussert werden. Und erst recht nicht taktlos. Auch wenn sich manche Leute für noch so wichtig halten – übrigens auch ein Zeichen von Unsicherheit: Wurde nicht nach ihrer Meinung gefragt, dürfen sie diese für sich behalten. Denn so ehrlich das auch ist: Es ist nicht freundlich.
Wovon hältst du am meisten?
Der Wettbewerb ist inzwischen beendet.