Meinung

Ehrlich geht auch freundlich

Ehrlich währt am längsten? Ich finde: Ja. Aber nur, wenn man sich nicht wie ein Rambo verhält.

Nett hingegen ist bekanntlich der kleine Bruder von … du weisst schon. Das sagt viel darüber aus, welchen Stellenwert freundliches Verhalten in unserer Gesellschaft einnimmt. Möglicherweise liegt das daran, dass die beiden Begriffe – Ehrlichkeit und Freundlichkeit – oft so hingebogen werden, wie es gerade passt. Dabei sind sie keine Gegensätze, sondern gleichzeitig möglich.

Harmonie um jeden Preis

Schauen wir uns kurz die Freundlichkeit an. In Wörterbüchern steht dazu: «sich den Mitmenschen gegenüber wohlwollend, entgegenkommend, gefällig zeigen». Hier liegt schon der Hund begraben. In «gefällig» steckt «gefallen». Man möchte gemocht werden. Und vor allem: Man möchte Harmonie.

Solche Menschen können durchaus feinfühlig und empathisch sein. Sie wechseln, schon bevor sie den Mund öffnen, die Perspektive. «Wie fühlt sich meine Äusserung für das Gegenüber wohl an?», fragen sie sich. Kommen sie zum Schluss, dass sich jemand gekränkt fühlen könnte, verpacken sie ihre Sätze in ein freundliches Schutzmäntelchen. So nett das auch ist: Es ist nicht ehrlich.

«Wahrheit» ohne Rücksicht

Was ist nun aber Ehrlichkeit? Sie wird in den Wörterbüchern mit «Aufrichtigkeit» und «Wahrhaftigkeit» beschrieben. Und hier steckt der Teufel in der «Wahrhaftigkeit». Was heisst wahrhaftig? Der Wahrheit entsprechend. Was bei unumstösslichen Gesetzmässigkeiten wie der Schwerkraft zutreffen mag, ist bei persönlichen Meinungen nicht allgemeingültig.

Ehrlich freundlich

Wie wäre es also mit einem Mittelweg? Aufrichtig sein UND auf die Gefühle anderer Rücksicht nehmen? Ja, das geht – ohne, dass irgendeine Information verloren geht – so:

  • «Ich finde, das andere Kleid steht dir besser» statt «In diesem Kleid siehst du fett aus!»
  • «Was genau ist dir unklar?» statt «Wie kann man so etwas nicht wissen?!»
  • «Könnten wir beim nächsten Mal XY probieren?» statt «Dein Meeting war lächerlich!»
  • «Was gefällt dir daran?» statt «Echt, DAS gefällt dir?! Cringe!»

Am besten funktioniert das mit Ich-Botschaften und interessierten, unvoreingenommenen Nachfragen.

Dafür braucht es vor allem eines: Selbstbewusstsein. Wer sich selbst kennt (sich seiner selbst bewusst ist), hat weder impulsive Ausbrüche noch ein krampfhaftes Festhalten an Harmonie nötig. So jemand kann sich im richtigen Moment zurücknehmen – oder sich konstruktiv zu Wort melden. So jemand macht sich weder unglaubwürdig noch unsympathisch. Und sind wir mal ehrlich: Nur so jemandem öffnen sich Menschen wirklich.

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Ich liebe alles, was vier Beine oder Wurzeln hat – besonders meine Tierheimkatzen Jasper und Joy sowie meine Sukkulenten-Sammlung. Am liebsten pirsche ich auf Reportagen mit Polizeihunden und Katzencoiffeurinnen umher oder lasse in Gartenbrockis und Japangärten einfühlsame Geschichten gedeihen. 


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