

Auch dein Multitasking ist gar nicht mal so gut
«Eins nach dem anderen, wie in Paris»: Getreu dieser Redewendung erledige ich meine Aufgaben, sei es nun im Alltag oder bei der Arbeit. Auf der anderen Seite gibt es Menschen, die mehrere Dinge gleichzeitig abarbeiten – denken sie zumindest.
Sobald ich mehr als eine Sache auf einmal mache, tue ich keine davon zu 100 Prozent. Es geht einfach nicht, weder mathematisch noch geistig. Natürlich, auch ich gehe und atme gleichzeitig. Das sind Automatismen, die meine Aufmerksamkeit nicht wirklich beanspruchen (und das vielleicht doch etwas mehr tun sollten). Mir geht’s um andere Aufgaben, komplexere. Ich kann zum Beispiel nicht gleichzeitig die Wäsche zusammenlegen, meine E-Mails checken und ein Kreuzworträtsel lösen. Vreni ist mir da weit voraus. Weil Vreni – die in Wirklichkeit ganz anders heisst – kann das alles!
Was Vreni sagt
Vreni und ich kennen uns über unsere Kinder. Ich schätze, wir sind befreundet. Ausser sie sülzt mir wieder mal die Ohren voll, wie toll und effektiv ihr Multitasking doch sei. Wahrscheinlich macht sie das mittlerweile mit Absicht, weil sie genau weiss, wie sehr sie mich damit auf die Palme bringt.
Sehr ernst meint es Vreni wiederum, wenn es um ihr Multitasking geht. In ihrer Welt ist das übrigens ein reines Frauending («Kennste, wa?»). Halte ich mit Studien dagegen, die Effizienz und Nutzen von Multitasking in Frage stellen oder widerlegen, sind die ja eh nur von Männern gemacht. Ich probiere es trotzdem immer mal wieder – man soll schliesslich nie aufhören, an die Vernunft des Menschen zu appellieren. Oder so.
Was die Wissenschaft sagt
Räumen wir gleich mal mit dem grössten Missverständnis auf: Wenn wir meinen, wir erledigen mehrere Dinge gleichzeitig (Multitasking), dann schalten wir in Wirklichkeit einfach nur sehr schnell zwischen verschiedenen Aufgaben um (Task Switching). Das ist nicht nur anstrengend, sondern auch fehleranfällig. Da verwundert es kaum, dass Task Switching die Gedächtnisleistung beeinträchtigt, wie eine Studie von Michéle C. Muhmenthaler (das ist eine Frau, Vreni) und Beat Meier vom Institut für Psychologie der Universität Bern belegt.
«Multitasking ist Humbug.»
Dieses Zitat könnte von mir sein, ist es aber nicht. Vielmehr soll es aus dem Mund eines Neurologen stammen, wie es im folgenden Video des SRF-Wissensformats «Einstein» heisst. Kathrin Hönegger und Tobias Müller erklären darin sehr anschaulich, warum nur schon mehr als zwei Dinge gleichzeitig unser Gehirn überfordern.
Alles gleichzeitig funktioniert nunmal nicht, im Gegenteil. Manche Forscher nehmen sogar an, dass Multitasking den IQ senkt, schrieb «Die Zeit» 2012 in einem Artikel, der diverse Studien zum Thema zitiert. Neurowissenschaftler und Arbeitspsychologinnen hätten das Phänomen über Jahre untersucht. Multitasking mache weder effizienter noch produktiver noch leistungsfähiger. Oder anders formuliert:
Multitasking ist ein Mythos.
Ich könnte jetzt beliebig weitermachen und Studien zitieren, welche die negativen Effekte von Multitasking hervorheben, aber ich will mal nicht so sein (doch, eigentlich schon …). Tatsächlich gibt es auch Studien, die darauf hinweisen, dass es positive Aspekte haben kann. So kann Multitasking beispielsweise zu Leistungssteigerungen führen – zumindest wenn man denkt, man mache Multitasking. Es geht dabei um den sogenannten Wahrnehmungseffekt. Eine Forschungsgruppe um Shalena Srna (wieder eine Frau, Vreni) hat das in insgesamt 32 Studien untersucht.
Der Glaube versetzt bekanntlich Berge. Oder etwa doch nicht?
«Dies bedeutet nicht, dass Multitasking an sich die Leistung verbessert, im Gegenteil: Multitasking wirkt sich negativ auf die Leistung aus.»
Aber wenigstens hast du ein gutes Gefühl dabei, Vreni, das ist doch auch schon etwas. Ironie beiseite: Zwei Aufgaben gleichzeitig zu erledigen liegt ja durchaus drin, wie wir inzwischen gelernt haben. Mindestens eine davon sollte einfach Routine oder ein erlernter Automatismus sein. Zudem können wir unser Gehirn auch gezielt trainieren. Wie, erklärt Ralph Caspers vom deutschen Wissensmagazin «Quarks» höchst unterhaltsam:
Und jetzt?
Ach ja, dass Frauen Multitasking können und Männer nicht, ist übrigens auch einfach Quatsch, der auf Vorurteilen beruht. Die Rheinisch-Westfälische Technische Hochschule (RWTH) Aachen beispielsweise konnte 2019 keinen signifikanten Unterschied zwischen Frauen und Männern feststellen.
Auch aus Sicht der Hirnforschung gibt es keinen Hinweis oder Beleg für bessere Multitasking-Leistung bei Frauen. Für einen solchen Unterschied gebe es evolutionär gesehen schlicht keine Gründe, sagte etwa der Neuropsychologe Lutz Jäncke von der Universität Zürich:
«Es gibt keinen genetischen, ultimativen Sinn dahinter, zu vermuten, dass die Homo-Sapiens-Frau vor 150 000 Jahren grundsätzlich besser für Multitasking vorprogrammiert worden sein soll als ein Mann. Das ist völlig unsinnig.»
Ich weiss nicht, wie es dir beim Lesen dieses Beitrags geht, ich jedenfalls habe beim Schreiben und Recherchieren ganz viel gelernt. Vreni wird das alles egal sein, ihr Multitasking funktioniert schliesslich. Und sowieso, was weiss die Wissenschaft schon?

Ich bin Vollblut-Papi und -Ehemann, Teilzeit-Nerd und -Hühnerbauer, Katzenbändiger und Tierliebhaber. Ich wüsste gerne alles und weiss doch nichts. Können tue ich noch viel weniger, dafür lerne ich täglich etwas Neues dazu. Was mir liegt, ist der Umgang mit Worten, gesprochen und geschrieben. Und das darf ich hier unter Beweis stellen.
Interessantes aus der Welt der Produkte, Blicke hinter die Kulissen von Herstellern und Portraits von interessanten Menschen.
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