
Design, das Tabus anspricht
Gutes Design findet Antworten auf Fragen, die die Gegenwart stellt. Dazu gehören auch Fragen zu tabuisierten Themen. Das habe ich an der Möbelmesse «Salone del Mobile» herausgefunden.
Wie kann dich gutes Design bereichern? Muss es dich überraschen oder Probleme für dich lösen? Genügt es, wenn es schön aussieht oder dir gelegentlich eine Freude bereitet? Sicher hast du eine eigene Meinung, was gutes Design ausmacht. In meinen Augen muss eine gelungene Gestaltung heute über die reine Form hinausgehen. Nehmen wir beispielsweise einen Stuhl. Es gibt bereits zahlreiche gelungene Entwürfe davon. Jedes neue Modell auf dem Markt braucht für mich eine sinnvolle Erklärung für seine Daseinsberechtigung, die nicht nur mit einer schönen Silhouette zu tun hat.
Ein Designer sollte sich auch mit Hürden im Alltag von Benutzern auseinandersetzen, die noch nicht thematisiert worden sind. Genau dort setzt die Möbelkollektion #talktaboos der Designstudenten des dänischen VIA University College an. Sie widmet sich unterschiedlichen Tabuthemen in unserer modernen Gesellschaft. «Über einige Tabus wie Depressionen reden wir zwar gelegentlich, aber am liebsten nur, wenn sie nicht uns betreffen», meint Oliver Ejlersen. Er gehört zu den Designern, die anlässlich des Salone del Mobile vor kurzem in Mailand ihre Studienarbeit präsentieren durften.
Bevor Oliver mich auf eine Tour durch die Ausstellungsfläche mitnimmt, gibt er mir eine Holzkugel in die Hand. Ich solle sie in einem der sieben Gläser, die sich vor mir auf einem Podest befinden, platzieren. Auf jedem Glas steht ein Tabuthema: Übergewicht, Nacktheit oder Sex im Alter zum Beispiel. Ich wähle für meine Kugel das Tabu «Grief» – Trauer – aus. Daraufhin führt mich Oliver zum Objekt, das mit dem Begriff verknüpft ist.
Das Tabuthema «Trauer»


Auf den ersten Blick sehe ich vor mir ein Wandregal, das mit einer Steinplatte verbunden und mit einer Skulptur geschmückt ist. Noch weiss ich nicht, was dieses Regal von anderen unterscheidet. Auch ist mir unklar, was es mit meinem ausgewählten Tabu zu tun hat.
Das Design «In Memory Of» von Annette Rosendal erschliesst sich mir erst mit Olivers Erklärung: Die Skulptur aus Eichenholz sei eine Urne und diene als Denkmal oder Memento mori in einem Zuhause. Für ein Trauerritual steht neben der Urne ein Glas mit einem Pinsel. Damit kannst du auf die Sandsteinplatte zeichnen oder schreiben und so Nachrichten an die Verstorbene oder den Verstorbenen senden. Innerhalb von Sekunden verschwindet die Botschaft und du kannst sie als gesendet betrachten.
Oliver erzählt mir, dass das Design Annette Rosendals verstorbener Schwester gewidmet ist. Die Designerin erkannte nach dem Tod ihrer Schwester, dass ihr neben dem Gang zum Friedhof ein anderes Ritual zum Trauern fehlt. Deswegen entwickelte sie den Altar, der von den vielseitigen Traditionen anderer Kulturen – unter anderem denen aus Mexiko – inspiriert ist.
Die Idee, ein modernes Memento mori zu entwerfen, das Menschen helfen soll, mit Kummer umzugehen, bewegt Oliver und mich. Unser Gespräch wird ernster und persönlicher. Niemandem in meinem Umfeld – mich eingeschlossen – fällt es leicht, über Verlust zusprechen. Die meisten meiner Freunde sind unter oder knapp über Dreissig. Gesprächsthemen kreisen in diesem Alter rundum Familien- und Karriereplanung oder die nächste grosse Reise.
Für mich ist nachvollziehbar, warum es beispielsweise angenehmer ist, bei einem Apéro im Szene-Café nach der Arbeit über schwerelose Zukunftspläne zusprechen. Oftmals behalten die Menschen deswegen das, was sie gerade sonst noch beschäftigt, für sich. Selten gibt es im Alltag den richtigen Ort und Moment um schmerzhafte Ereignisse anzusprechen.
So kann selbst ein allgegenwärtiges Thema wie der Tod zum Tabu werden. Dabei sollte niemand mit seiner Trauerarbeit alleine sein. Umso schöner, dass es Designer wie Annette Rosendal gibt, die mit ihren Möbeln für Zuhause einen geschützten Raum zum offenen Gespräch schaffen. Nur so kann Design einen Beitrag zum Wohlbefinden jedes Einzelnen leisten.
Ein offenes Gespräch


In alle weiteren Abschlussprojekte der VIA-Studenten, bekomme ich dank Oliver im Anschluss ebenso einen Einblick. Jedes einzelne Möbel regt an, sich in ein Tabu hineinzudenken und zu hinterfragen, warum es eigentlich eines ist.
Damit Menschen leichter ins Gespräch kommen, geht der Entwurf «Missing Link» – Fehlender Link – der Studentin Mette Casperse und Oliver Ejlersen selbst sogar einen Schritt weiter. Die Sitzbank ist so gestaltet, dass sie zwei Personen physisch dabei unterstützt, miteinander zu kommunizieren: Zwei Drehscheiben auf der Sitzfläche sind über Rädchen verbunden. Beim Bewegen der einen Person, geht die andere mit. Diese Funktion ermöglicht, dass sich Personen einander optimal zuwenden können. Selbst bei unangenehmen Themen.


Tabus betreffen uns alle. Manche mehr und manche weniger. Dass mir einige davon auf einer Designmesse begegnen, hätte ich nicht erwartet. Damit haben mich die jungen Designer des VIA-University College positiv überrascht und die Messlatte für weitere Ausstellungen, die ich besuche hoch gesetzt. Folge mir, wenn du wissen möchtest, ob mir noch weitere gelungene Arbeiten in Mailand begegnet sind. Drücke einfach den schwarzen Knopf bei meinem Profil. Ich freue mich über dein Abo.
Wie ein Cheerleader befeuere ich gutes Design und bringe dir alles näher, was mit Möbeln und Inneneinrichtung zu tun hat. Regelmässig kuratierte ich einfache und doch raffinierte Interior-Entdeckungen, berichte über Trends und interviewe kreative Köpfe zu ihrer Arbeit.