Hintergrund

Bildungsexperte: «Lehrpersonen müssen davon wegkommen zu glauben, dass Hausaufgaben automatisch einen Nutzen bringen»

Martin Rupf
23.8.2022

In den meisten Kantonen hat die Schule wieder begonnen. Und damit in vielen Familien der Kampf mit den Hausaufgaben. Braucht es die noch und wenn ja, was für Ufzgi machen Sinn? Ein Bildungsexperte gibt Auskunft.

Schon sind wir wieder voll drin: Zwei Wochen nach Schulstart ist die Situation bei uns Zuhause schon aus dem Ruder gelaufen. Der Anlass: die Ufzgi. Während ich entnervt aufgegeben habe, in Erfahrung zu bringen, wie genau mein Sohnemann die Mathe-Aufgaben zu lösen hat, hat eben dieser nicht minder genervt Heft und Etui in seinem Thek verschwinden lassen.

Jeder von uns hat seine eigenen, in der Regel nicht unbedingt guten Erinnerungen an die Hausaufgaben. Seit meine Kinder in die Schule gehen, ist das das Thema Ufzgi wieder relevant. Oft habe ich mich schon beim Gedanken ertappt, ob Hausaufgaben überhaupt Sinn machen. Respektive frage ich mich immer wieder, welche Funktion Ufzgi überhaupt haben und noch viel entscheidender, ob auch die Lehrpersonen sich diese Frage stellen.

Ob es Hausaufgaben gibt, liegt in den meisten Fällen in der Kompetenz der Schulgemeinde. Tatsächlich haben sich denn auch schon einzelne Gemeinden wie etwa Arbon, Kriens oder zuletzt vor zwei Jahren Männedorf für die Abschaffung der Ufzgi entschieden. An den meisten Schweizer Schulen sind Hausaufgaben aber auch heute noch nicht wegzudenken.

Herr Schönenberger, bei uns Zuhause sind wieder einmal die Fetzen geflogen wegen der Hausaufgaben. Was machen wir falsch?
Stefan Schönenberger: (lacht). Ich kann Sie beruhigen, sie sind mit diesem Problem weiss Gott nicht alleine. Das Thema «Ufzgi» ist bei ganz vielen Eltern, Kindern, aber eben auch Lehrpersonen ein Dauerthema. Aber jetzt wird’s spannend: Nicht nur im negativen Sinn, wie man denken könnte.

Sondern?
Im Kanton Zug hat man kürzlich eine Umfrage unter Eltern zum Thema Hausaufgaben gemacht: Drei Viertel der Eltern erachten Hausaufgaben als wichtig. Über 80 Prozent gaben sogar an, dass sie Hausaufgaben sinnvoll fänden. Und neun von zehn Eltern nahmen Einblick in die Hausaufgaben ihrer Kinder. Es gibt weitere Umfragen, die Ähnliches besagen.

Auf die Rolle der Eltern komme ich gerne später zu sprechen. Bleiben wir noch rasch bei den «Ufzgi». Was wurde denn «immer schon so gemacht», was im Jahr 2022 eventuell anders angegangen werden müsste?
Heute herrscht an den Volksschulen oft noch eine Monokultur der nachbereitenden Hausaufgaben vor. Sprich, Hausaufgaben dienen vielerorts auch heute noch dazu, das Gelernte zu üben und zu wiederholen.

Was auch oft auffällt. Alle Schüler*innen müssen dieselben Hausaufgaben erledigen.
Das ist tatsächlich ein Problem, dass sehr oft alle Schülerinnen und Schüler quantitativ wie auch qualitativ die gleichen Hausaufgaben machen müssen. Doch diese Gleichbehandlung führt eben genau wieder zu Ungleichbehandlung.

Warum genau?
Die schnellen Schülerinnen und Schüler erledigen die «Ufzgi» schnell, die langsamen eben langsam. Es wäre wünschenswert, die Lehrpersonen würden beim «Ufzgi»–Geben differenzieren und nicht von allen Schülerinnen und Schülern das Gleiche verlangen. Denn nicht nur Überforderung ist demotivierend, sondern eben auch Unterforderung.

Eine Selbstverständlichkeit müsste man meinen?
Im Unterricht ist die Differenzierung längst angekommen. Wie deren Qualität ist, ist ein anderes Thema. Es ist ein Widerspruch, wenn der Unterricht individuellen Voraussetzungen Rechnung trägt und bei den Hausaufgaben dann wieder alle dasselbe tun. Allerdings ist eine berechtigte Frage, inwiefern dies für Lehrpersonen neben allem anderen auch noch leistbar ist.

Sie haben auch die Qualität der elterlichen Begleitung erwähnt.
Nicht nur Kinder leiden regelmässig unter Hausaufgaben. Auch viele Eltern können ein Lied davon singen, wie nerven- und vor allem zeitaufreibend das Begleiten und Kontrollieren der «Ufzgi» ist. Man hört immer wieder, dass Eltern von Mittelstufenschülerinnen und -schülern ein bis zwei Stunden pro Tag mit den Kindern an den Hausaufgaben sitzen.

Manchmal entsteht gar der Eindruck, das Vermitteln von Stoff werde von der Schule an die Eltern outgesourct.
Wenn Eltern mit ihren Kindern ein bis zwei Stunden an den «Ufzgi» sitzen, ist schon mal etwas grundsätzlich schief gelaufen. Ein Grund kann tatsächlich sein, dass die Lehrperson zu viele oder ungünstige Hausaufgaben gegeben hat. Es kann aber auch mit überhöhten Erwartungen seitens der Eltern zusammenhängen.

Was ist denn eine sinnvolle elterliche Einstellung?
Grundsätzlich macht es keinen Sinn, die Kinder fachlich zu unterstützen. Denn diese sollten typischerweise nur Aufgaben erhalten, die sie zu lösen in der Lage sind. Eltern können ihre Kinder aber bei der Emotionssteuerung unterstützen und helfen, an den Hausaufgaben dran zu bleiben. Eine zu starke Einmischung in die Hausaufgaben ist aber meistens kontraproduktiv.

Verstehe ich Sie also richtig: Lehrpersonen sollten nur Ufzgi geben, welche die Kinder selbständig lösen können?
Ja. Sobald eine fachliche Einmischung durch die Eltern nötig wird, läuft etwas schief widerspricht eigentlich dem Grundsatz, wonach «Ufzgi» selbständig zu lösen sind. Zudem wird durch das Einmischen und zu starke Unterstützen der Eltern die Hilfsbedürftigkeit eines Kindes kaschiert.

Bildungsexperte: «Eine Schule sollte zum Thema Hausaufgaben eine fundierte Meinung haben»

Die «Ufzgi»: Leider ist es nicht so, dass sie nur bei Kindern Stress auslösen können. Eltern können ein Lied davon singen, wie nerven- und zeitaufreibend das Begleiten der Hausaufgaben sein kann. «Ufzgi» führen in vielen Familien nicht selten zu Streit, Frust und Dauerstress. Wenn die Kinder von der Schule nach Hause kommen, lautet der erste Satz typischerweise: «Hei Schatz, wie war’s in der Schule?», gefolgt vom zweiten Satz: «Hast du Ufzgi?».

Sondern?
Entscheidend ist für mich, dass sich die Schulen und die Lehrperson fragen, weshalb sie Hausaufgaben geben und welche Funktion bei der konkreten Hausaufgabe im Vordergrund steht.

Und was heisst das für die Hausaufgaben?
Die Lehrpersonen müssen davon wegkommen zu glauben, dass Hausaufgaben automatisch einen Nutzen bringen. Letztlich ist nicht das «Wieviel» entscheidend, sondern welche Qualität die Hausaufgaben haben und zu welchem Zweck sie gegeben werden.

Herr Schönenberger, danke für das Gespräch. Ich muss mir jetzt nur noch überlegen, wie weit diese theoretischen Überlegungen zur Hausaufgabengestaltung mir im Alltag etwas bringen. Eventuell diskutiere ich mit ihnen darüber, damit sie in der Schule eine kleine Revolution anzetteln können.

Frage an die Community: Verzweifelt auch ihr an den «Ufzgi»? Oder anders gefragt: Welche Tipps für entspanntes «Ufzgi»-Machen habt ihr auf Lager?

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Zweifachpapi, nein drittes Kind in der Familie, Pilzsammler und Fischer, Hardcore-Public-Viewer und Halb-Däne. Was mich interessiert: Das Leben - und zwar das reale, nicht das "Heile-Welt"-Hochglanz-Leben.


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