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Das Beste aus dem Land der Bärentatzen
von Ümit Yoker
Wie ermöglicht man Kindern einen natürlichen Umgang mit ihrem Körper - in einer Zeit, in der die Furcht vor sexuellen Übergriffen allgegenwärtig ist?
Mittwochnachmittag im Freibad. Ein Kind stürmt ins Wasser. Auf dem Handtuch bleibt: seine Badehose. Gut möglich, dass sich nun bald ein Bademeister den Eltern des nackten Mädchens nähern wird oder ein besorgter Badegast, und sie auffordert, dem Kind doch etwas anzuziehen; jemand könnte es fotografieren, erklärt der Bademeister, oder er führt hygienische Gründe an. Vielleicht hat sich der Vater ja auch selbst schon umgesehen, ob nicht irgendjemand dem Treiben im Kinderbecken zu interessiert zuschaut. Er pfeift also seine Tochter zurück und hält ihm die Badehose hin - und fragt sich, ob bei all dem erwachsenen Unbehagen nicht etwas Wichtiges für das Kind auf der Strecke bleibt.
Die Verunsicherung in der Gesellschaft ist gross: Darf mein Sohn den Penis seines Vaters anfassen, während er mit ihm in der Badewanne planscht? Bis zu welchem Alter dürfen Kinder überhaupt mit ihren Eltern baden? Muss man eingreifen, wenn die Tochter beim Spielen den Finger in ihre Scheide steckt? Wie weiss ich, dass die Doktorspiele unter Kindergartenfreunden keinen Schaden anrichten? Setze ich mein Kind einem Risiko aus, wenn ich es im Park nackt spielen lasse? Und: Wie ermöglicht man Kindern trotz allem einen natürlichen Umgang mit ihrem Körper?
Schon Babys wollen ihren Körper erforschen. Gelegenheit bieten dazu in den ersten Lebensmonaten eines Neugeborenen vor allem Zeiten des Badens und des Wickelns, zu denen es es auch einmal länger nackt bleiben kann. Oft würden Eltern aber gerade weibliche Babys schnell wieder anziehen, wenn diese damit begännen, ihr Geschlecht zu betasten, heisst es in einem Bericht des Marie Meierhofer Instituts für das Kind zum Thema Sexualentwicklung. «Für die Identität und den Stolz, ein Mädchen oder ein Junge zu sein, gehört eine positive Haltung der Eltern und Erzieher zum Geschlecht des Kindes dazu.» Wenn das Mädchen mit seinen Fingern also ein wenig den Eingang seiner Scheide befühle und die Eltern dazu freundlich etwas sagten wie «Ja, das ist deine Scheide» lerne es, dies als gleichwertig zu einem Satz wie «Ja, das ist dein Händchen» zu verstehen.
Mädchen und Jungen wollen wissen, wie die verschiedenen Regionen ihres Körpers heissen, und die meisten können früh nicht nur Bein, Bauch und Kopf, sondern auch Detaillierteres wie Stirn oder Ferse benennen. Die anatomisch korrekte Bezeichnung der Geschlechtsteile hingegen kennen viele Kinder im Vorschulalter nicht, heisst es in der Broschüre «Sexualerziehung bei Kleinkindern und Prävention von sexueller Gewalt», herausgegeben von der Stiftung Kinderschutz Schweiz und der Mütter- und Väterberatung Schweiz. Sowohl Jungen als auch Mädchen verfügen zudem viel häufiger über Begriffe für männliche Genitalien als für weibliche. Damit fehlen dem Kind aber nicht nur Worte, um Empfindungen und Erfahrungen auszudrücken. Es spürt auch, dass offenbar nicht alle Körperteile gleich sind und es über seinen Penis oder seine Vulva nicht so unbefangen sprechen kann wie über seine Ohren.
«Ein Kind, das ungehindert seine Körperöffnungen erkundet, assoziiert nicht, es ist einfach neugierig, nicht mehr und nicht weniger. Fantasien, Scham oder Verbote verbindet es keine damit», schreiben Anna von Ditfurth und Jeannine Schälin im Bericht des Marie Meierhofer Instituts für das Kind. Kinder überlegen sich nichts dabei, wenn sie entdecken, dass manche Berührungen wohlige und lustvolle Gefühle auslösen - es sind die Erwachsenen, die diese als sexuelle Handlung interpretieren. So rät die Broschüre der Stiftung Kinderschutz etwa Eltern und anderen Erziehungsbetrauten, diese Erkundungen nicht als sexuelles Verhalten im erwachsenen Sinne, sondern primär als Entwicklungsschritt des Kindes zu sehen. Trotzdem gilt es natürlich auch auf die Gefühle anderer Menschen Rücksicht zu nehmen, wenn sich ein Kind etwa auf dem Spielplatz berührt oder wenn zu Hause Gäste zugegen sind. In solchen Situationen kann man es bitten, seine Erkundungen an einem anderen Ort fortzusetzen, zum Beispiel in seinem Zimmer. Die Kinder müssen aber wissen, dass an ihrem Bedürfnis grundsätzlich nichts falsch ist, sondern einfach der Rahmen dafür gegeben sein muss.
Kinder hören nicht nur, was Erwachsene sagen - sie schauen auch, was Erwachsene tun. Ihnen ein Vorbild zu sein, setzt eine Auseinandersetzung mit der persönlichen Sexualerziehung und dem eigenen Körperbewusstsein voraus. Aber es bedeutet nicht, dass wir uns über unsere Hemmungen und Schamgefühle hinwegsetzen müssen. Es ist für Kinder wichtiger, dass Eltern authentisch sind und zu ihrem Erziehungsansatz stehen, schreiben Bruno Wermuth und Colette Marti im Bericht der Stiftung Kinderschutz. Und dass Unsicherheiten, die man empfindet, nicht zu Verboten führen, die den Entdeckungsdrang des Kindes und seine Freude an der Lust unnötig beschneiden. Geht es um den eigenen Körper, darf man aber auch seinen Kindern klare Grenzen setzen: Denn selbst im Wissen darum, dass der Sohn aus kindlicher Neugier am Penis seines Vaters drücken oder die Scheide seiner Mutter ertasten will, sind solche Berührungen den Erwachsenen vielleicht unangenehm oder sie merken gar, dass sie sie erregen. In beiden Fällen gilt es, dem Kind bestimmt, aber undramatisch zu vermitteln, dass man solche Erkundungen nicht möchte. Nicht zuletzt lebt man ihnen so vor, dass es individuelle Grenzen gibt und man Nein sagen darf.
Das Bild des lüsternen Fremden, der Kinder mit Büsis und Bonbons lockt, hält sich hartnäckig. Dabei ist schon länger bekannt: Die grosse Mehrheit pädosexueller Gewalttäter sind keine Unbekannten, sondern gehören zum sozialen Umfeld des Kindes oder gar zur Familie; es kann der Fussballtrainer sein oder der Primarlehrer, der Stiefvater oder ein guter Freund der Eltern. Meist sind die Täter gut in die Gemeinschaft integriert und ihr sexuelles Interesse beschränkt sich im Gegensatz zu Pädophilen nicht ausschliesslich auf Kinder. Natürlich sollte man Kinder im Umgang mit Menschen, die sie nicht kennen, trotzdem zur Zurückhaltung mahnen. Von Geschichten über böse Männer, die Kinder entführen, hält der Sozialpädagoge Bruno Wermuth aber nichts. Sie wecken diffuse Ängste und vermitteln das Bild einer gefährlichen und unberechenbaren Welt, ist er überzeugt. «Viel wichtiger ist der Appell, sich auf das eigene Gefühl zu verlassen.» Kinder müssen wissen, dass sie Nein sagen und Grenzen setzen dürfen, wenn sich Berührungen oder Bemerkungen komisch anfühlen - auch wenn sie von vertrauten Menschen kommen. Sie müssen wissen, dass es gute und schlechte Geheimnisse gibt und ihr Körper ihnen ganz alleine gehört. Wird einem Kind von klein auf vermittelt, dass sein Körper in all seinen Teilen wertvoll und schützenswert ist, hat es erfahren, wie sich Lust und Wonne anfühlen, aber auch, dass seine Signale der Ablehnung erkannt und respektiert werden, wird ihm all dies leichter fallen.
Journalistin und Mutter von zwei Söhnen, beides furchtbar gerne. Mit Mann und Kindern 2014 von Zürich nach Lissabon gezogen. Schreibt ihre Texte im Café und findet auch sonst, dass es das Leben ziemlich gut mit ihr meint.<br><a href="http://uemityoker.wordpress.com/" target="_blank">uemityoker.wordpress.com</a>