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Warum eigentlich stoppt der Sekundenzeiger der Bahnhofsuhr?

Die Schweizer Bahnhofsuhr ist Vorbild und Designklassiker. Purer schwarz-weisser Minimalismus, der nur vom roten Sekundenzeiger herausgefordert wird. Der tanzt nicht nur farblich aus der Reihe, sondern auch, weil er jede Minute kurz stehen bleibt.

Ein kühler Windstoss zieht über das Perron, gerade ist ein ICE durchgerauscht. In sechs Minuten ist Abfahrt des Interregios, der mich von Lenzburg nach Zürich bringen soll. Anstatt aufs Handy zu starren, mache ich ein kleines Spiel: Minutenschätzen. Die Bahnhofsuhr ist Richterin. Als der Sekundenzeiger auf Zwölf steht, kann’s losgehen. Nein, doch nicht. Er bleibt erst kurz stehen, bevor er in die neue Minute startet. Wieso das?

Pünktlichkeit ist Pflicht

Es ist das Jahr 1944. Ingenieur Hans Hilfiker, der seit zwölf Jahren bei der SBB in der Bauabteilung III arbeitet, wird zum stellvertretenden Leiter befördert und entwirft die heute ikonische Schweizer Bahnhofsuhr: schwarze Striche auf weissem Grund mit einem schwarzen Stunden- und Minutenzeiger. Zahlen fehlen komplett, sodass die Zeit auch aus einiger Entfernung abgelesen werden kann.

Hilfiker will, dass alle Bahnhofsuhren in der Schweiz synchron laufen, damit die Züge überall pünktlich abfahren. Dafür wird ein minütlicher Impuls einer Hauptuhr gebraucht. Über Telefonkabel wird dieser von der Uhr im Stellwerk Zürich an alle anderen Uhren an Schweizer Bahnhöfen geleitet.

Kultstatus

Heute wäre das längst nicht mehr nötig, da die Uhren zehntelsekundengenau mit Signalen versorgt werden. Aber die kleine Pause des Sekundenzeigers gehört zur Schweizer Bahnhofsuhr und hat grossen Anteil an ihrem Kultstatus.

Unterdessen ist mein Interregio pünktlich eingefahren. Ich habe während der Wartezeit nicht nur herausgefunden, was es mit dem pausierenden Sekundenzeiger auf sich hat (und dafür trotzdem noch mein Handy hervorgekramt), sondern auch, dass ich ein schlechtes Zeitgefühl habe. Genau 41 Sekunden dauert eine Minute bei mir. Livin’ la vida rápida.

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Meinen Horizont erweitern: So einfach lässt sich mein Leben zusammenfassen. Ich liebe es, neue Menschen, Gedanken und Lebenswelten kennenzulernen,. Journalistische Abenteuer lauern überall; ob beim Reisen, Lesen, Kochen, Filme schauen oder Heimwerken.


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