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Supraleiter-Weltrekord bei 15 °C

US-Forschern gelingt in einem Laborversuch der verlustfreie Stromtransport bei Plusgraden. Doch wichtige Fragen zu dem Supraleitungs-Experiment bleiben offen.

Perfekte Stromkabel, schwebende Züge

Seit mehr als 100 Jahren ist die Supraleitung eine Verheissung. Sie stellt Kabel ohne elektrischen Widerstand in Aussicht. Mit ihnen liesse sich Strom verlustfrei über weite Strecken übertragen, auch sparsamere Mikrochips und kleinere MRTs sind denkbar. Und da Supraleiter Magnetfelder aus ihrem Inneren verdrängen, würde manche Strassenbahn wohl einem Transrapid weichen.

Die Natur macht solche Träume bisher leider zunichte. Die allermeisten Materialien verlieren ihren elektrischen Widerstand nur nahe dem absoluten Temperaturnullpunkt bei minus 273 Grad Celsius. Und selbst «Hochtemperatur»-Supraleiter wie die kupferhaltigen Cuprate brauchen noch flüssigen, rund minus 200 Grad kalten Stickstoff als Kühlmittel – und sind dazu meist sehr brüchig.

Doch mit einem Trick werden auch einfachere Verbindungen bei hohen Temperaturen supraleitend: Übt man einen grossen Druck auf ihre Oberfläche aus, verändert sich ihr Atomgitter. Elektronen können dadurch über zielgerichtete Gitterschwingungen kommunizieren. Sie finden sich so zu «Cooper-Paaren» zusammen, die sich ohne Energieverlust durch den Festkörper bewegen – die «konventionelle» Supraleitung, die man lange nur von ultrakalten Materialien kannte.

Bauplan für einen Supraleiter

«Das war der eigentliche Meilenstein», sagt Lilia Boeri. «Alles, was seitdem passiert ist, ist eine logische Folge davon.» 2018 stellten die Mainzer Forscher gleich den nächsten Rekord auf. Demnach ist auch die Metallverbindung Lanthan-Decahydrid (LaH10) ein perfekter Leiter, wenn man sie extrem stark komprimiert. Und das bei vergleichsweise warmen 13 Grad unter null.

Das Bemerkenswerte an den Mainzer Ergebnissen: Theoretiker hatten im Vorfeld jeweils berechnet, dass die Verbindungen unter hohem Druck supraleitend werden müssten. Bei den chemisch vertrackten Hochtemperatur-Supraleitern aus der Familie der Cuprate oder den eisenbasierten Pnictide war solch eine Prognose praktisch nie gelungen.

Im Express durchs Peer-Review

«Es ist schwer vorstellbar, dass in dieser Zeit ein gründliches Peer-Review stattgefunden hat», kritisiert Graeme Ackland von der University of Edinburgh. Beim ersten Durchsehen erscheine die Studie zwar durchaus solide, aber manche wichtige Frage bleibe offen. Bernhard Keimer, Direktor am Max-Planck-Institut für Festkörperforschung in Stuttgart, sieht das ähnlich. «Man weiss eigentlich gar nicht, um was für ein Material es sich handelt», sagt er.

So ist bislang völlig unklar, welche Gitterstruktur die Schwefel-, Wasserstoff- und Kohlenstoffatome in dem winzigen Probenbehälter von Dias und seinem Team bilden. Beim bisherigen Rekordhalter LaH10 war das anders: Hier zeigten Berechnungen, dass die Wasserstoffatome eine Art Käfig um das schwerere Fremdatom bilden. Dadurch entsteht ein symmetrisches Gitter, das dem von metallischem Wasserstoff ähnelt.

Drei ist besser als zwei

Bei dem Komplex aus C-, S- und H-Atomen aus Dias' Experiment dürfte dagegen eher etwas anderes die Supraleitung begünstigen: Möglicherweise bilden die drei Elemente unter Druck extrem stabile «kovalente» Bindungen aus, die das Atomgitter sehr starr machen. Dadurch könnten sich Schwingungen leicht in dem Material ausbreiten, was Elektronen zu Cooper-Paaren zusammenführt. So läuft es jedenfalls bei H3S, das 2015 auf dem Treppchen stand.

Ob sich damit auch die Supraleitung des neuen Rekordhalters erklären lässt, ist offen. Aufschluss hätten hier Messungen bringen können, bei denen Röntgenstrahlen von der Probe gestreut werden, sagt der Mainzer Konkurrent Mikhail Eremets. «Es ist ein Rätsel, wieso das Team keine solchen Daten veröffentlicht hat.»

Ranga Dias rechtfertigt das damit, dass solche Messungen bei C-S-H-Verbindungen nicht aussagekräftig seien und bei Diamantpressen-Experimenten generell überschätzt würden. Er und sein Team arbeiten laut eigener Aussage an einem anderen Röntgenverfahren, das Rückschlüsse auf die atomare Struktur der Probe erlauben soll.

So oder so dürften sich nun Theoretiker an die Arbeit machen. Sie werden in den nächsten Monaten verschiedene Atomgitter-Konfigurationen durch ihre Computer jagen und schauen, welche von ihnen die Ergebnisse des Experiments aus Rochester reproduzieren kann. «Das ist das nächste Rennen», sagt Lilia Boeri.

Auf dem Weg zum nächsten Rekord

Sie glaubt, dass in den nächsten Jahren immer weitere Rekorde in Sachen Raumtemperatur-Supraleitung folgen werden. Denn bei Hydridverbindungen aus drei Elementen stünden die Forscher bisher erst ganz am Anfang. Insgesamt bietet das Periodensystem hier 1770 Kombinationsmöglichkeiten.

Generell hoffen die Fachleute, dass einige der Drei-Element-Verbindungen sich als pflegeleichtere Raumtemperatur-Supraleiter entpuppen, also auch bei niedrigen Drücken die besondere Eigenschaft behalten. «In der jetzigen Form, in eine Diamantpresse eingespannt, eignen sich die Materialien jedenfalls nicht für irgendeine Anwendung», sagt Bernhard Keimer.

Das gesteht auch Ranga Dias ein. Er hat dennoch kürzlich ein Unternehmen gegründet, um mit seiner Entdeckung Geld zu verdienen. Einen Business-Plan gebe es zwar noch nicht, sagt er. Aber das könne sich ja noch ändern, wenn er und sein Team weiter experimentieren.

Allerdings ist die Geschichte der Supraleitung eine Geschichte der enttäuschten Erwartungen. Schon bei der Entdeckung der Cuprate Ende der 1980er Jahre war mancher Forscher davon überzeugt, das Zeitalter der schwebenden Strassenbahnen stehe bevor. Am Ende war die Sache viel komplizierter als gedacht.

Und so sind viele Forscher eher skeptisch, wenn es um einen Supraleiter geht, der auch bei Zimmertemperatur und ohne zusätzlichen äusseren Druck seinen Zauber entfaltet. «Ich glaube, wir werden irgendwann ein Material finden, das sich bei Normaldruck und minus 100 Grad gut einsetzen lässt», sagt Lilia Boeri. Das wäre dann genug für manche Spezialanwendung – aber wohl zu wenig für die grosse Materialrevolution.

Originalartikel auf Spektrum.de
Titelbild: Julien Bobroff (user:Jubobroff), Frederic Bouquet (user:Fbouquet), Jeffrey Quilliam, LPS, Orsay, France, CC BY-SA 3.0, via Wikimedia Commons

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