

Rückzug im Zug zwischen Basel und Zürich

Es ist 06:47, der Zug fährt ab. Ich habe mir einen Fensterplatz geangelt, gehe gerade meine Mails durch, als die automatische Schiebetüre mit einem lauten Knall auffliegt und ein gestresster Mensch durch den Wagen stürmt. Von ganz vorne, nach ganz hinten. Eines dieser herzigen Rollköfferchen rumpelnd hinter sich herzerrend, pflügt er sich seinen Weg durch den Mittelgang.
Dann lässt sich der gestresste Mensch samt Köfferchen mit einem dynamischen Plumps auf den Sitz mir gegenüber fallen. Dabei steht er mir schwungvoll auf meine neuen Sneakers. Danke. Entschuldigt er sich? Sicher nicht. Hat er gefragt, ob der Platz mir gegenüber frei ist? Wo denkst du hin. Ein «Guten Morgen»? Träum weiter.
Auf drei zählend, wobei ich vor meinem geistigen Auge einige Martial Arts Moves an meinem Gegenüber ausführe, widme ich mich wieder meinen Mails. Den «Auf-den-letzten-Drücker-durch-den-Wagen-Stürmer» gibt’s übrigens mindestens einmal pro Wagon, ebenso den «Ich-bin-so-wichtig-ich-muss-immer-telefonieren-Schreihals». Aber die diversen Pendlertypen sind ein anderes Thema.
Der schleichende Rückzug
Mein Thema ist der Rückzug in die Arbeit. Mails checken, Meetings bestätigen, Protokolle lesen, solche Sachen. Man könnte es aber auch mit den drei Affen umschreiben: nichts sehen, nichts hören, nichts sagen. Alles was ich dazu brauche, sind mein Notebook, mein Smartphone und meine Kopfhörer. Das Equipment fein säuberlich in einem Rucksack verstaut. Bereit für den totalen Rückzug. Ich habe diesen in den letzten Monaten optimiert und schaffe es nun meistens ungeschoren durch die tägliche Pendlerschlacht. Notebook starten, Kopfhörer auf, Musik an – nichts sehen, nichts hören, nichts sagen.
Allerdings bemerke ich seit kurzem eine Veränderung. Immer häufiger komme ich auf den letzten Drücker in den Wagon. Wer will schon Minuten vor der Abfahrt da rumsitzen? Immer häufiger bin ich gestresst und schlecht gelaunt. Schliesslich bin ich Pendler, da wird man ja wohl noch mies drauf sein dürfen. Immer öfter setze ich mich wortlos jemandem gegenüber hin und beginne zu arbeiten. Bin schliesslich nicht hier um Freunde zu finden.
Vorwärts statt rückwärts
Schade eigentlich, denn wir sitzen doch alle im selben Boot oder Zug. Warum frage ich den Bartträger drei Sitze hinter mir nicht endlich, wie er sein beeindruckendes Gesichtshaar in Form bringt? Schliesslich fahren wir seit sechs Monaten jeden Morgen nach Zürich und das hätte ich schon lange gerne gewusst. Oder frage die Dame schräg vis-à-vis nach der Handlung ihres Buches, in dem sie jeden Morgen liest? Und warum schaffe ich es nicht, dem Miesepeter mir gegenüber zu sagen, dass ihm sein Hemd wirklich steht? Vielleicht huscht ja ein kurzes Lächeln über sein Gesicht.
Angriff statt Verteidigung. Schauen, reden, zuhören. Vielleicht werde ich ja überrascht von positiven Begegnungen. Vielleicht bin ich ja umgeben von Freunden, nicht von Feinden. Morgen um 06:47 probiere ich das mal aus. Vielleicht mit einer literarischen Provokation oder ganz verspielt oder mit einer simplen Einladung zum Kaffee.
Aufforderung zum Spiel

Gute Laune
Gemeinsame Kaffeepause
Echt jetzt? Lass uns darüber reden


Vom Radiojournalisten zum Produkttester und Geschichtenerzähler. Vom Jogger zum Gravelbike-Novizen und Fitness-Enthusiasten mit Lang- und Kurzhantel. Bin gespannt, wohin die Reise noch führt.