Kritik

«Monster» ist ein Meisterwerk, das sich nur langsam entfaltet

Kevin Hofer
10.10.2023

Bist du auf der Suche nach einem Anime, der keine Klischees des Mediums bedient? Du denkst gerne über Themen nach wie Identität oder was es bedeutet, Mensch zu sein? Dann solltest du dir «Monster» anschauen.

An wenigen Animes habe ich mehr zu beissen gehabt als an «Monster». Für die 74 je etwa 20 Minuten langen Episoden habe ich beinahe ein halbes Jahr gebraucht. Das liegt einerseits an den heftigen Themen, die das Werk von Naoki Urasawa aufgreift. Andererseits habe ich das schrecklich langsame Pacing der Geschichte kaum ausgehalten.

Trotz seiner Langsamkeit ist «Monster» eine der besten Geschichten, die jemals in einem Manga/Anime erzählt wurden. Das liegt nicht zuletzt an dem grandiosen Antagonisten.

Spoiler-Warnung: Ich versuche so wenig wie möglich von der Handlung zu verraten. Den Inhalt der ersten Folgen muss ich jedoch grob skizzieren, damit du überhaupt weisst, worum es bei der Serie geht.

Das ist «Monster»

«Monster» wurde vom Mangaka Naoki Urasawa Mitte der Neunziger gezeichnet und geschrieben. Der Manga erschien von 1994 bis 2001, der gleichnamige Anime von 2004 bis 2005. Dieser folgt dem Manga beinahe eins zu eins, fügt aber an gewissen Stellen kurze Sequenzen hinzu.

Der japanische Hirnchirurg Dr. Kenzo Tenma ist ein Genie. Der junge Arzt arbeitet in einem Spital in Düsseldorf. Eines Tages wird der elfjährige Johan Liebert mit einer Schussverletzung eingeliefert. Tenma rettet ihn.

Neun Jahre später hat Tenma eine hohe Position am Spital inne. Alles scheint gut, bis eines Tages Johan wieder in sein Leben tritt. Dieser tötet vor Tenmas Augen einen anderen Menschen. Dem Hirnchirurgen wird bewusst, dass er einem Monster das Leben gerettet hat. Ein Monster, das etliche Menschen auf dem Gewissen hat und weiter morden wird, wenn er es nicht stoppt.

Tenma begibt sich auf die Suche nach Johan und entwirrt nach und nach die Mysterien um dessen Leben und Person. Das gestaltet sich nicht einfach, denn Tenma gilt als Hauptverdächtiger in diversen Mordfällen, die Johan zu verantworten hat. Er befindet sich also auf der Flucht. Dabei trifft er viele Nebencharaktere, die ihn für eine gewisse Zeit begleiten und unterstützen.

Geniale Charaktere mit Tiefgang

«Monster» ist kein Klischee-Anime. Will heissen: überdrehte Charaktere, übernatürliche Kräfte und sich überschlagende Action suchst du vergebens. Der Ton von Urasawas Werk ist reduziert und realistisch.

Die beiden Protagonisten werden von starken Nebencharakteren begleitet. Da ist etwa der geniale BKA-Inspektor Heinrich Lunge, der Tenma fassen will. Der mit Sherlock-Holmes-ähnlichen Fähigkeiten gesegnete Lunge ist vielschichtig und macht im Laufe der Zeit eine Wandlung durch. Stellt er zu Beginn seinen Job über alles andere, lernt er später, dass es Wichtigeres gibt.

Dasselbe gilt für Eva Heinemann. Sie ist zu Beginn die Partnerin von Tenma und Tochter des Oberarztes am Spital des Hauptcharakters. Eva ist der klassische Charakter, den du liebst zu hassen. Die rachsüchtige, egoistische Person erlebt zu Beginn einen tiefen Fall und kämpft sich im Laufe der Handlung ins Leben zurück. Am Schluss ist sie sogar irgendwie sympathisch.

Nicht zu vergessen ist Nina Fortner alias Anna Liebert – Johans Zwillingsschwester. Die anfänglich fröhliche Nina wird im Verlauf der Geschichte zunehmend verbittert. Denn sie verdrängt Erinnerungen an ihre Kindheit mit Johan und erinnert sich erst nach und nach daran.

Ninas Geschichte ist am offensichtlichsten eine Identitätssuche – eines der zentralen Themen von «Monster». Sie steht wie Tenma im Kontrast zu Johan. Dennoch unterscheidet sich ihr Denken von jenem Tenmas. Müsste ich den drei Charakteren Denkschulen zuweisen, würde ich Johan als Nihilist, Nina als Existenzialistin und Tenma als Humanisten bezeichnen.

An gewissen Stellen ist die Story überladen

In «Monster» geht es zu einem grossen Teil um Fragen der Identität und was es heisst, Mensch zu sein. Aber nicht nur. Alle Themen anzusprechen, würde den Rahmen dieses Artikels bei weitem sprengen. Nur so viel: «Monster» ist nicht In-your-Face. Du musst dir vieles selbst zusammenreimen und interpretieren. Falls du das nicht gerne machst, bist du beim Werk von Naoki Urasawa falsch.

Inszenierung und Sound

Bist du dir Animationen von heutigen Animes gewohnt, werden dich die teils statischen Einstellungen von «Monster» irritieren. Stellenweise tut sich während Sekunden nichts auf dem Bild. Es ist beinahe so, als ob ich mir den kolorierten Manga auf dem Fernseher anschaue. Das ist jedoch keine Kritik. Der Animationsstil von «Monster» passt perfekt zum reduzierten und realistischen Ton der Geschichte. Ich habe Zeit, alles einzusaugen.

Auch das Sounddesign ist sehr gut. Der Sound ist wie die visuelle Inszenierung zurückhaltend. Draussen zwitschern die Vögel, in der Wohnung eines alten Herren ist die Standuhr zu hören. Die wenigen Actionszenen kommen ohne laute Effekte und treibende Musik aus. Für letztere zeichnete sich Kuniaki Haishima verantwortlich. Der Soundtrack untermauert die Atmosphäre des Animes perfekt. Der Titelsong «Grain» sorgt bei mir noch heute für Gänsehaut.

Ein Werk, das du reflektieren musst

Trotz der vielen Nebenschauplätzen und langsamen Erzählweise ist «Monster» ein Meisterwerk. Der Antagonist Johan lässt mich erschaudern. Mit dem liebenswerten Tenma fiebere und leide ich mit. Die vielen Nebencharaktere haben Tiefgang. Die Serie ist ein Fest für alle Fans von Dramen und psychologischen Thrillern.

Es macht Spass, sich vertieft mit den Themen von «Monster» auseinanderzusetzen. Aber du musst dich darauf einlassen. Schaust du lieber Charakteren zu, die sich mit übernatürlichen Kräften gegenseitig eins auf die Nuss geben, bist du beim Werk von Naoki Urasawa falsch. Auch wenn du dir gerne alles vorkauen lässt, ist «Monster» nichts für dich.

Allen anderen kann ich nur raten: Versuch es. «Monster» ist eine Reise. Bist du damit durch, fängt der Spass mit der Interpretation erst an.

Alle 74 Episoden von «Monster» sind derzeit auf Netflix abrufbar.Titelbild: K.K. Madhouse

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Technologie und Gesellschaft faszinieren mich. Die beiden zu kombinieren und aus unterschiedlichen Blickwinkeln zu betrachten, ist meine Leidenschaft.


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