
Ist die Branche bereit für barrierefreie Mode?

Obwohl sich die Modewelt als extrem anpassungsfähig gibt und vermehrt auf Diversität und Body Positivity setzt, ist der Markt für adaptive Fashion nach wie vor eine Nische.
Dank Bewegungen wie «Body Positivity» und «Diversity» hat in der Modewelt endlich ein Umdenken stattgefunden. Denn die typische Durchschnittskundschaft ist weit von Magermassen und einer Körpergrösse von 1,8 Meter entfernt. Doch wie steht es um Menschen mit einer körperlichen Beeinträchtigung? Obwohl Models wie Mario Galla, der von Geburt an einen verkürzten Oberschenkel hat und Bri Scalesse, die seit einem Autounfall im Rollstuhl sitzt, immer häufiger von Designern gebucht werden, sollte sich Diversität nicht nur in Kampagnen oder auf dem Catwalk, sondern auch in den Kollektionen widerspiegeln. Und zwar in Sachen Schnitt und Funktionalität. Lifestyle-Marken wie Tommy Hilfiger, Nike und MOB Industries sind sich dessen bewusst und bringen mit ihren Linien respektive einem Sneaker adaptive Mode ins Gespräch.
Eine Milliarde Menschen haben laut der Weltgesundheitsorganisation eine Behinderung. Eine hohe Zahl. Dennoch werden sie nach wie vor in vielen Lebensbereichen benachteiligt. So auch in Sachen Mode. Viele Kleidungsstücke können je nach Beeinträchtigung nicht alleine respektive nur umständlich angezogen werden. Oder hast du schon mal probiert, eine Knopfleiste einhändig zu schliessen? Auch Nähte sind so eine Sache: Wenn sie an einer ungünstigen Stelle sitzen, sorgen sie für Druckstellen. Der Teufel steckt im Detail. Adaptive Mode muss funktional sein. Heidy Anneler, die seit ihrem fünften Lebensjahr nach einem Unfall im Rollstuhl sitzt, ist mit dieser Problematik bestens vertraut: «Es sind vor allem die Reissverschlüsse an Hosen und Jacken, die ich nicht schliessen kann. Mir ist oft kalt. Zudem sind die Hosenbeine und Ärmel häufig zu eng geschnitten.»
Funktionale Mode
Einer, der schon länger adaptive Mode entwirft, ist Tommy Hilfiger. Sein Interesse kommt nicht von ungefähr. In seiner Familie haben mehrere Menschen eine Behinderung. Weil der Designer aus Erfahrung nur zu gut weiss, wie herausfordernd das tägliche An- und Ausziehen von Kleidungsstücken sein kann, lanciert er «Tommy Adaptive». Eine Linie, die der Modemacher aufgrund seiner Alltagserfahrungen entworfen hat. Nebst Magnetverschlüssen, inwendigen Anziehschlaufen und Stoffen aus Stretch setzt Tommy Hilfiger auf weite Hosenbunde, die gleichermassen für Prothesen und Schienen geeignet sind. Einziger Wermutstropfen aus Sicht der Tetraplegikerin Heidy Anneler: «Für meinen Geschmack sind die Stücke viel zu teuer. Ich wünsche mir adaptive Mode, die schön und bezahlbar ist.»
Auch Sporthersteller springen auf den Adaptive-Clothing-Zug auf. Während Adidas in Kampagnen auf Models wie Lauren Wasser setzt – die goldenen Beinprothesen sind mittlerweile zu ihrem Markenzeichen geworden –, geht die Marke Nike einen Schritt weiter und lanciert ihren ersten barrierefreien Sneaker. Der «Go Fly Ease» lässt sich freihändig – sprich: ohne den Schuh überhaupt anzufassen – anziehen. Möglich macht das ein bi-stabiles Scharnier, das den Schuh geöffnet und geschlossen sichert. Indem du dich zum Ausziehen auf das Fersenteil stellst, kannst du den Sneaker, ohne dich zu bücken, ausziehen.

Clevere Kosmetik
Die Dringlichkeit dieses Marktes haben nun auch Beauty Labels erkannt. Viele Kosmetikprodukte haben einen Deckel. Um diesen zu öffnen, sind in der Regel zwei Hände nötig. Ein «Handicap», dem sich die Branche vermehrt bewusst wird. Aus diesem Grund hat die Marke Degree (hierzulande bekannt als Rexona) den «Degree Inclusive» entwickelt. Ein Deodorant, dessen Deckel du einhändig öffnest. Möglich macht das die Verschlusskappe mit Haken, an dem das Produkt aufgehängt ist. Zum Öffnen ziehst du den Rest der Verpackung herunter. Ein Magnetverschluss erleichtert beim Verschliessen das Aufsetzen des Deckels. Damit die Achsel mit nur einem Wisch benetzt wird, ist der Applikator grösser als der eines herkömmlichen Deos. Hinzu kommt die Brailleschrift auf der Verpackung, damit Blinde verstehen, um welches Produkt es sich hierbei handelt. Ob und wann das Produkt in die Schweiz kommt, ist bisher noch unbekannt.

Der Markt für adaptive Mode kommt gemächlich in Gang. Ein Hindernis, das sich vielen Herstellern von barrierefreier Fashion noch in den Weg stellt, sind die Algorithmen auf Social Media. Sie sind schuld daran, dass Inhalte adaptiver Fashion Labels auf Facebook & Co. gesperrt werden. Gemäss Fashion United stufen diese Algorithmen solche Anzeigen als medizinisch ein. Weil damit in den Sozialen Medien keine Werbung gemacht werden darf, gilt dies als ein Regelverstoss und die Inserate werden ausgeblendet. Auf diese Weise wird die Reichweite adaptiver Mode erheblich verringert und einem noch unbekannten Label der Weg zusätzlich erschwert.
Es bleibt zu hoffen, dass es sich bei adaptiver Fashion um keinen kurzzeitigen Trend, sondern um einen andauernden Richtungswechsel handelt. Erst wenn sich die Modebranche nicht nur anpassungsfähig gibt, sondern auch adaptiv produziert und die Ware zu einem fairen Preis verkauft, ist sie auf dem richtigen Weg und für alle zugänglich.


Wenn ich mal nicht als Open-Water-Diver unter Wasser bin, dann tauche ich in die Welt der Fashion ein. Auf den Strassen von Paris, Mailand und New York halte ich nach den neuesten Trends Ausschau und zeige dir, wie du sie fernab vom Modezirkus alltagstauglich umsetzt.