Kritik

«Bye Sweet Carole» ist der schönste Albtraum, den ich seit Langem gespielt habe

Kevin Hofer
13.10.2025
Bilder: Kevin Hofer

Es gibt Spiele, die bleiben hängen. Sie nisten sich im Kopf ein und lassen auch Tage nach dem Abspann nicht mehr los. «Bye Sweet Carole» vom Indie-Studio Little Sewing Machine ist genau so ein Spiel.

Lana betritt einen wunderschönen Garten. Plötzlich flattert ein Brief an ihr vorbei zu Boden. Als Lana ihn aufheben will, befördert ihn ein Windstoss auf den Ast eines naheliegenden Baums. Sie verschiebt eine Bank, um ihn zu erreichen, nur damit er erneut davongeweht wird. Dieses Spiel geht immer weiter, bis Lana den Garten verlässt und einen unheimlichen Wald betritt. Damit nicht genug, wird sie plötzlich vom Bösewicht Mr. Kyn verfolgt und muss fliehen.

Willkommen in «Bye Sweet Carole», dem neuen Spiel von Little Sewing Machine, das vom ersten Moment an an klassische Disney-Zeichentrickfilme aus den 40er-Jahren erinnert. Doch unter der handgezeichneten Oberfläche lauert eine düstere, melancholische Geschichte, die mir mehr als einmal eine Gänsehaut beschert hat.

Ich schlüpfe in die Rolle von Lana Bennet. Sie sucht nach ihrer besten Freundin Carole, die auf mysteriöse Weise verschwunden ist. Auf ihrer Reise trifft sie eine Reihe skurriler Charaktere – nicht alle sind ihr freundlich gesinnt. Die Story ist nicht revolutionär, aber sie sitzt.

Gleichzeitig ist Freundschaft das emotionale Rückgrat des Spiels. Die unzertrennliche Verbindung zwischen Lana und Carole sowie ihre unerwartete Allianz mit dem freundlichen Mr. Baesie geben der düsteren Welt einen Hoffnungsschimmer. Das Spiel predigt seine Botschaften nie, sondern lässt sie durch die Handlung und die Charaktere für sich selbst sprechen.

Die ersten Kapitel ziehen sich etwas. Doch wer dranbleibt, wird belohnt. Das Pacing ist bewusst langsam und wird mit jeder der zehn Episoden emotionaler und unheimlicher.

Simples Gameplay mit Macken

Spielerisch hält sich «Bye Sweet Carole» bewusst zurück. Das Gameplay besteht hauptsächlich aus leichten Platforming-Einlagen und einfachen Rätseln. Ein paar davon sind clever designt, aber keines hat mich lange aufgehalten. Sie dienen dazu, die Geschichte voranzutreiben.

Im Verlauf des Spiels entwickle ich neue Fähigkeiten. So kann ich mich etwa in einen Hasen verwandeln. Als solcher passe ich durch enge Lücken, bin schneller unterwegs und kann hoch springen – inklusive Wall-Jump.

Jedoch kann ich weder als Lana noch als Hase kämpfen und muss vor Gegnern fliehen. Das klingt stressiger, als es ist. Die Feinde lassen sich leicht abhängen, indem ich mich verstecke und die Luft anhalte. Diese Einfachheit ist aber keine Schwäche, sondern eine der grössten Stärken des Spiels. Der Fokus bleibt immer auf der Erzählung.

Das ist auch gut so, denn die Steuerung ist nicht über jeden Zweifel erhaben. Der Wall-Jump etwa funktioniert unzuverlässig. Mehrfach bleibt mir Lana an Hebeln hängen, ohne sich lösen zu lassen. Die Rätsel sind zwar einfach gestrickt, aber nicht immer intuitiv – und das Fehlen eines Tutorials macht Vieles zur Geduldsprobe.

Ebenfalls auf die Geduld stellen mich die Ladezeiten. Werde ich von einem Monster verfolgt und wechsle den Screen, dauert es teilweise fünf Sekunden, bis ich den nächsten betrete. Das ist 2025 einfach nicht mehr zeitgemäss.

Ein handgezeichnetes Meisterwerk mit Gänsehaut-Sound

Optisch ist «Bye Sweet Carole» eine Wucht. Der Kunststil erinnert sofort an die goldenen Zeiten von Disney. Jede Szene, jede Animation, jeder Charakter ist mit einer unglaublichen Liebe zum Detail von Hand gezeichnet.

Wenn ich etwa ein Blumenfeld betrete, zoomt die Kamera elegant von einer Weitwinkelansicht auf die Protagonistin hinein. Oder beim Putzen des Kellers verhüllt eine Staubwolke den Bildschirm, worauf die gereinigte Umgebung zum Vorschein kommt.

Man spürt in jedem Frame die Leidenschaft, die das Team von Little Sewing Machine in das Projekt gesteckt hat. Das Spiel hat sehr viele Zwischensequenzen, ich habe ständig das Gefühl, einen vergessenen Zeichentrickfilm zu schauen – was mir durchaus gefällt.

Aber was wäre diese wunderschöne Optik ohne den passenden Sound? Auch hier liefert das Spiel auf ganzer Linie ab. Der Soundtrack von Luca Balboni ist phänomenal. Er weiss genau, wann er sich mit leisen Melodien zurückhalten und wann er mit dramatischen Violinen für Hochspannung sorgen muss.

Genauso beeindruckend ist die Sprachausgabe. Besonders die Stimme des Bösewichts Mr. Kyn hat mich umgehauen.

«Bye Sweet Carole» ist seit dem 9. Oktober für Playstation 5, Xbox Series, Switch und PC erhältlich. Das Game wurde mir von Maximum Entertainment zu Testzwecken für den PC zur Verfügung gestellt.

Fazit

Ein wunderschönes und unvergessliches Abenteuer

«Bye Sweet Carole» ist ein Meisterstück in Erzählung und Präsentation – noch selten habe ich so viele Screenshots eines Spiels erstellt. Die handgezeichneten Animationen sind wunderschön, die Sprachausgabe hervorragend. Die Geschichte von Lana wird mir noch lange in Erinnerung bleiben.

Das Gameplay hingegen ist simpel und teils frustrierend. Die Passagen sind aber meist kurz und ich werde durch Fortschritte in der Story bei Laune gehalten. Stehst du auf Story-fokussierte Spiele, kann ich dir «Bye Sweet Carole» wärmstens empfehlen.

Pro

  • tiefgründige Geschichte
  • wunderschöne Präsentation
  • toller Soundtrack

Contra

  • teils frustrierende Steuerung
  • lange Ladezeiten

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Technologie und Gesellschaft faszinieren mich. Die beiden zu kombinieren und aus unterschiedlichen Blickwinkeln zu betrachten, ist meine Leidenschaft.


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