Bis an die Grenzen im Einsatz
Hintergrund

Bis an die Grenzen im Einsatz

Die Mitglieder der SLRG widmen ihre Freizeit dem Wasser. Einmal pro Monat trainiert die Sektion Mittelrheintal, bei rasendem Puls ruhig Blut zu bewahren. Ein Besuch bei den ehrenamtlichen Lebensrettern.

Der Rhein kann ein Biest sein. Kalt, reissend und potenziell tödlich. Doch manchmal, findet Dario Rodi, entfalte dieser stahlgraue Strom in der Dunkelheit einen speziellen Zauber. «Wenn du im Winter über eine frische Schneedecke stapfst, bevor du ins Wasser gehst, dann hat das was», sagt der Regionalpräsident der Schweizerischen Lebensrettungs-Gesellschaft Region Ost mit einem Lächeln hinter der Schutzmaske. Nebenbei erzählt der Satz etwas über das Mindset der Männer und Frauen, die sich einmal im Monat zum Einsatztraining treffen. Abends, in ihrer Freizeit, bei Wind und Wetter.

Bei der SLRG aktiv zu sein, ist weder Hobby noch Beruf. Am ehesten Berufung. «Berührung mit der SLRG hatte ich schon als ganz kleines Kind über die Eltern», sagt der 33-Jährige. Nach dem Jugend-Brevet habe eines das andere ergeben. «Jetzt bin ich seit 20 Jahren aktiv dabei und habe mich immer mehr engagiert.» Inzwischen sind die Strukturen professionell und die Einsätze ernst. Gemeinsam mit Feuerwehr, Polizei und Sanität rücken die Wasserretter aus. «Seit 2017 sind wir in der Alarm-Organisation des Kanton St. Gallen und können direkt über die kantonale Notrufzentrale aufgeboten werden», sagt Joël Rodi, Darios Bruder. Er ist Präsident und Einsatzchef der Sektion Mittelrheintal. Genauso besonnen, genauso strukturiert, genauso engagiert.

Dario Rodi (links), Daniela Lippuner und Joël Rodi.
Dario Rodi (links), Daniela Lippuner und Joël Rodi.

Die Probleme treiben ihnen entgegen

Die Mitglieder des seit 2013 bestehenden Einsatzzugs müssen auf unterschiedliche Szenarien vorbereitet sein. Bei Wasserunfällen zählt jede Sekunde. Wie in einer Sanduhr die Zeit zerrinnt, ziehen die Minuten im Wasser gnadenlos Energie aus dem Körper. Unter der Oberfläche endet die Hoffnung schnell, dann wird aus dem Rettungs- ein Sucheinsatz mit tragischem Ausgang. In Fliessgewässern ist die Lage zusätzlich kompliziert, weil sie sich ständig verändert. «Die Probleme auf dem Rhein schwimmen uns meistens entgegen», sagt Dario Rodi bei einem Blick auf das Einsatzgebiet der Sektion. Es erstreckt sich im St. Galler Rheintal vom Bodensee bis nach Rüthi.

Um adäquat zu reagieren, müssen die Aufgaben klar verteilt sein. Bei den Männern und Frauen im Wasser, genau wie bei der Einsatzleitung. Sie begegnet den Herausforderungen mit einem SOP, was für «Standard Operating Procedure» steht und die Abläufe klar definiert. Wie überall, wo es keine Zeit zu verlieren gibt, wimmelt es in der SLRG-Sprache von Abkürzungen. Dieser lange Trainingsabend beginnt dort, wo WRB, SEF und WRF gelagert sind: Im Stützpunkt Widnau, zwischen A13 und Rhein, warten Wasserrettungsboot, ein Quad als Schnelleinsatzfahrzeug und das grosse Wasserrettungsfahrzeug auf ihren Einsatz.

Es ist ein Augusttag, wolkenverhangen und regnerisch. Untypisch für diesen Corona-Sommer, der bei den Rettungskräften die Alarmglocken schrillen lässt. Mehr Menschen, die in den Ferien im Land bleiben und entlegene Orte am Wasser aufsuchen. Das bedeutet erhöhte Unfallgefahr.

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    von Michael Restin

Fünfmal musste die Sektion Mittelrheintal bis Mitte August schon ausrücken. «Im Vorjahr waren es um diese Zeit erst zwei Einsätze», sagt Dario Rodi. Ein Sucheinsatz war 2020 glücklicherweise noch nicht dabei. «Dreimal Personenrettung, zweimal technische Hilfeleistung», bilanziert er.

Ein Fahrzeug im Kanal, eine Sachgüterbergung. Ein Badeunfall, eine Person im Rhein, ein Suizidant, der von der Brücke springen wollte. «Das kommt leider immer wieder vor.»

Dario Rodi am Stützpunkt Widnau.
Dario Rodi am Stützpunkt Widnau.

Nicht alle Einsätze sind spektakulär. Die SLRG übernimmt auch Badewachen und Sicherungsdienste bei Veranstaltungen, bietet Kurse und ein reges Vereinsleben an. Sie ist mehr als «nur» die Rettung und gut eingebunden: «Seit 1982 sind wir von der SLRG stolzes Mitglied beim Schweizerischen Roten Kreuz», heisst es in der Selbstbeschreibung.

Bis ein Rettungsschwimmer fit für den Einsatzzug ist, der im Ernstfall ausrückt, dauert es eine Weile. «22 Leute sind im Alarmfall aufgeschaltet, zwei oder drei sind auf dem Weg dazu», sagt Dario Rodi. «Die Grundausbildung geschieht intern, dann gibt es Einsatzübungen und Einsatztraining.»

Aus dem Alltag in den Einsatz

Wer dabei sein will, muss mehr als nur gut schwimmen können. Rodi zeigt Suchstangen, Kisten mit Seiltechnik und Abseilmaterial. Handwerkszeug, mit dem die Rettungsschwimmer vertraut sein müssen. Je nach Situation sind unterschiedliche Qualitäten gefordert: «Grundsätzlich sind wir Generalisten, haben aber einen unterschiedlichen Erfahrungsstand», sagt Rodi.

Was auch immer passiert, beim Ausrücken muss es schnell gehen. «In zehn bis 15 Minuten ist ein Team am Schnelleinsatzfahrzeug ready.» Aus dem Büro oder Privatleben gerissen, geht es kurz darauf in voller Montur auf dem geländegängigen Quad einem ungewissen Einsatz entgegen. Es folgt das Wasserrettungsfahrzeug. Ein Kleinbus, in dem der Einsatzleiter mit seinem Team ausrückt und per Anhänger das Boot oder Raft transportieren kann. Beruflich freigestellt werden die SLRG-Leute dafür nicht. Sie müssen den Einsatz in ihrer Freizeit leisten, mit Ferien oder Überstunden kompensieren.

Einsatzbesprechung vor dem Training.
Einsatzbesprechung vor dem Training.

Während Rodi das Material vorführt und über Strukturen referiert, finden immer mehr Männer und Frauen den Weg an den Stützpunkt. Sie packen ihre Ausrüstung, schlüpfen in Neoprenanzüge, machen sich und das Equipment mit routinierten Handgriffen parat. Nachdem die ersten vor Ort das Klischee des grossen, männlichen Retters zu bedienen schienen, stehen um 19 Uhr fünf Frauen und sechs Männer zur Einsatzbesprechung im Kreis. «Coronabedingt trainieren wir in Kleingruppen», sagt eine Maskierte, doch der Frauenanteil sei repräsentativ.

Heute steht die Kontaktrettung mit Weste und Seil auf dem Programm, als Trainingsort wird die Brücke am Zollamt Mäder bestimmt. «Guter Zugang, etwa 70 Meter breit, gleichbleibende Bedingungen», fasst Dario Rodi die Vorteile zusammen. Wobei der wichtigste Wert zur Lagebeurteilung ein anderer ist. «Der Durchfluss in Kubik pro Sekunde ist für uns entscheidend», erklärt er. «Wenn ich 800 Kubik sage, dann wissen die anderen Bescheid.» Knappe Ansagen, kurzes Nicken – hier wissen alle, was zu tun ist. Die Stimmung ist gelöst, als es ans Wasser geht. Training ist Training, und das macht offensichtlich Spass.

Timing ist alles

Eine reglose Person im Wasser – jetzt muss es schnell gehen.
Eine reglose Person im Wasser – jetzt muss es schnell gehen.

«Wasserrettung! Rausschwimmen! Nicht weiter!», hallt es rüber bis nach Österreich. Ein Team in voller Montur hat sich am Ufer postiert. Der Mann im Wasser krault, offensichtlich unbeeindruckt, noch ein paar Züge weiter in Richtung Flussmitte. Dann bewegt er sich nicht mehr, treibt reglos in Bauchlage vorbei. Platsch, ein Kopfsprung. Die Retterin arbeitet sich hin, packt und dreht ihn.

Mit dem Seil an ihrer Schwimmweste gelingt es der Kollegin an Land, beide ganz langsam aus der Strömung ans Ufer zu ziehen. Etwa 50 Meter weiter werden sie vom zweiten Posten in Empfang genommen. Hört sich einfach an, klappt in der Dynamik des Augenblicks jedoch nicht immer.

Das Timing in der starken Strömung ist schwierig. Es ist eine Kunst, im richtigen Moment zu springen, um den Verunfallten schnell zu erreichen. Gelingt das nicht, folgt der Ruf «Seilende! Schwimmen!» und niemand kann mehr ziehen, was die Rettung komplizierter macht.

Daniela Lippuner zieht die Retterin und den «Patienten» per Seil aus der Strömung.
Daniela Lippuner zieht die Retterin und den «Patienten» per Seil aus der Strömung.

Jeden Sommer ertrinken Menschen, die helfen wollten und dafür ihr eigenes Leben riskiert haben. «Du musst dir wirklich sehr gut überlegen, ob du hinterherspringst», sagt Dario Rodi auf diese Tragik angesprochen. Niemand müsse sich selbst in Gefahr bringen. Wenn möglich ein Rettungsmittel zuwerfen, die Person im Auge behalten und ihre genaue Position melden – das sei im Notfall angemessen. «Retten mit geringstem Risiko», lautet das Prinzip. Weniger Baywatch, mehr Vernunft. Das Wichtigste bei einer Rettung ist der Selbstschutz.

Wer trainiert, reagiert in Ausnahmesituationen mit höherer Wahrscheinlichkeit richtig. Eine Garantie gibt es nicht, jeder Einsatz ist anders. «Es soll und darf etwas in die Hose gehen», sagt Rodi über das Training. «Nur so können wir besser werden.» Mein Stichwort. Auch ich darf in die Hose gehen, steige ich in Badehose und Neopren, um als «Patient» im Wasser zu treiben. Von «Opfern» sprechen die Retter nicht, solange es noch Hoffnung gibt.

Daniela Lippuner instruiert mich für den Sprung in den Rhein.
Daniela Lippuner instruiert mich für den Sprung in den Rhein.

Ganz ruhig und Schritt für Schritt tasten wir uns über die Böschung ins Wasser. Daniela Lippuner zeigt mir einen passenden Stein für den Sprung in den Rhein und erinnert an die «Passivlage», in der ich mich nach ein paar Kraulzügen treiben lassen soll. Mit den Füssen voraus im Wasser sitzend, werde ich auf meine Rettung warten. Heikler als der Einstieg scheint der Ausstieg zu sein, die Strömung und Felsen im seichten Wasser sind tückisch. Wer sich hier den Fuss einklemmt, hat ein Problem.

«Erst auf Kommando aufstehen», schärft Daniela mir ein. «Wir ziehen dich raus. Wenn du draussen bist und alles in Ordnung ist, hältst du die Faust auf den Kopf.» Als Zeichen für die anderen, dass alles in Ordnung ist. Na dann: keine Panik. Elf Retterinnen und Retter, ein Wasserrettungsboot, das Schnelleinsatzfahrzeug und das Wasserrettungsfahrzeug sollten für mich reichen. Besser beschützt ist selten jemand in den Rhein gesprungen. Kathrin, Chemielaborantin von Beruf und seit drei Jahren aktiv dabei, zieht mich mühelos raus.

Der Herr der Lage

Im Ernstfall wäre ich darauf angewiesen, dass jemand reagiert und die Retter alarmiert. «118 wäre die richtige Nummer, 144 funktioniert natürlich auch», sagt Joël Rodi, der am Wasserrettungsfahrzeug Position bezogen hat und die Lage am Einsatzort überblickt. «In Fliessgewässern haben wir das Rettungskonzept Alpenrhein», sagt er, und verweist auf die Karte an der Fahrzeugwand, die Ortsnamen und markante Punkte wie Brücken enthält.

«Diese sind nummeriert und wir haben eine Abschnittsbildung», erklärt er. «Wenn jemand in Not ist, lösen wir ein SOP aus und die Einsatzleiter treffen sich an der nächsten Brücke.» An der Abschnittsgrenze werde einen Sicherungsposten eingerichtet. «So ist basierend auf unserer definierten Ausrückzeit sichergestellt, dass der Patient noch nicht vorbeigetrieben ist.» Daneben wird auf der Lagekarte festgehalten, wie sich die Situation entwickelt.

Je nach Lage wird auch das Boot zu Wasser gelassen.
Je nach Lage wird auch das Boot zu Wasser gelassen.

Der Blick auf die Führungsstruktur zeigt, wie wichtig die Kommunikation ist. Polizei, Feuerwehr und Sanität sind die Partnerorganisationen, dazu kommen im Grenzgewässer die österreichischen Kollegen. «Vom Ereignis über die Alarmierung, Anfahrt und Einsatzbewältigung ist das ein standardisierter Prozess», sagt Joël Rodi. Ein Grossaufgebot, das sich nur so bewältigen lässt.

Im Ernstfall müssen alle Rädchen ineinandergreifen, muss jede und jeder wissen, was zu tun ist und sich auf die individuelle Aufgabe konzentrieren. «Nach dem Einsatz haben wir eine Nachbesprechung, ein sogenanntes Defusing, das sich vom Debriefing unterscheidet», erklärt Joël Rodi. «Die Einsatzkräfte machen das selbst in der Mannschaft. Es geht darum, Informationsgleichstand herzustellen.»

Zwischen Spass und Stress

Wer zu Kevin Berger ins Wasserrettungsboot steigt, der merkt, wie sehr eine Aufgabe alle Aufmerksamkeit absorbiert. Schon das Einwassern über die Böschung ist schwierig, bei voller Fahrt flippern die Sinneseindrücke wild durcheinander. Strömung und Wellen, Boot und Horizont verschieben sich rasend schnell zu einem wackeligen Gesamtbild.

Kevin Berger navigiert das Wasserrettungsboot durch die Strömung.
Kevin Berger navigiert das Wasserrettungsboot durch die Strömung.

Als Passagier im Training ist das ein grosser Spass. Unter Einsatzbedingungen Stress für alle Beteiligten, egal in welcher Funktion. Stress, der sich bei einem guten Ausgang sicher leichter bewältigen lässt. Was aber, wenn jede Hilfe zu spät kommt? Wer hilft den Helfern? «Wenn es Probleme gibt, können wir ein Debriefing mit Externen machen, die ein angeleitetes Gespräch führen, um bei der Verarbeitung zu helfen», sagt Joël Rodi. «Psychologische Betreuung ist ebenfalls sichergestellt.» Das volle Programm also.

Während die meisten von uns nach Feierabend zu Sofahelden werden und Netflix einschalten, werfen die Rettungsschwimmer ihre Fähigkeiten gemeinsam in die Waagschale, um dem Schicksal etwas entgegenzusetzen. Sie springen ins Wasser, kentern mit dem Raft, seilen sich ab, treiben Sommer wie Winter durch die Dunkelheit und reiben sich bei Rettungsübungen auf. Mit Begeisterung für die Sache und dem Ernstfall im Hinterkopf. Als sich die Dämmerung über die Zollstelle Mäder senkt, flackern immer noch Helmlampen auf dem Wasser. Das Bild hat etwas Symbolisches. Die Männer und Frauen der SLRG gehen im wahrsten Sinne des Wortes bis an die Grenzen.

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Sportwissenschaftler, Hochleistungspapi und Homeofficer im Dienste Ihrer Majestät der Schildkröte.


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