Hintergrund

Neo aus The Matrix hat keine Persönlichkeit – oder doch?

Luca Fontana
28.2.2019

Im Sci-Fi-Thriller «The Matrix» ist Neo nichts weiter als eine Superhelden-Schablone ohne Persönlichkeit. Es gibt aber eine Szene, die einen kleinen Blick in seine Vergangenheit gewährt – und damit vieles erklärt.

Philosophisch, dystopisch und gesellschaftskritisch. Getarnt als Actionfilm stellt «The Matrix» aus dem Jahr 1999 grundlegende Fragen über die menschlichen und technologischen Entwicklungen. Damit hat er sich seinen Stellenwert als einer der besten Science-Fiction-Filme aller Zeiten verdient.

Aber der Hauptcharakter Neo (Keanu Reeves) hat keine Ängste, Träume oder Hoffnungen. Meistens handelt er so, wie es die Filmhandlung gerade verlangt. Das Maximum an Charakterzeichnung ist ein einziger Satz über sein früheres Leben in der Matrix, als er an ein Restaurant vorbeichauffiert wird: «Da hab ich früher gegessen. Sehr gute Nudeln.»

Neo, wie er im Film dargestellt wird, ist eine persönlichkeitslose Schablone, die irgendwie jeder und gleichzeitig niemand ist. Oder doch nicht? Noch bevor sich Neo seiner Existenz in der Matrix überhaupt bewusst ist, wird er von Agenten verhört. In den darauffolgenden vier Minuten erfährst du mehr über den Charakter Neo als im gesamten restlichen Film.

Schauen wir uns das an.

Neo ist seit Kindesalter Rebell und mag Literatur

Die Szene beginnt mit der Befragung durch den Anführer der Agenten: Agent Smith (Hugo Weaving). Agenten sind menschenähnliche Programme in der Matrix, dessen Hauptfunktion darin besteht, jeden zu eliminieren, der die Wahrheit über die Matrix offenlegen oder ihrem System Schaden zufügen könnte. Smith knallt eine Mappe auf den Tisch. Sie enthält Neos gesamtes Leben. Zuoberst aber sein Vorstrafenregister.

Es bleiben nur Sekundenbruchteile, um einen Blick in dieses Register zu werfen. Etwa nach 40 Sekunden im obigen Video. Wenn du das Bild im richtigen Moment anhältst und um 180 Grad drehst, bekommst du folgenden Einblick:

Fällt dir auf, wie ultragenerisch all diese Namen sind?

An der Owen Paterson High hat sich Neo einen Namen in den Fächern Naturwissenschaften, Mathematik und Computer gemacht. Darüber hinaus hat er grosses Interesse an Geschichte und Literatur gezeigt. Das schlägt sich in den ersten Filmminuten nieder, wo du sehen kannst, wie Neo Disketten mit illegalem Schadprogramm im Buch «Simulacra and Simulation» versteckt. Zur Erklärung: Das ist die wohl abgefahrenste Aufsatzsammlung überhaupt.

Wieder zu Neo. In seiner legitimen Tätigkeit ist er ein introvertierter Programmierer für das respektable Softwareunternehmen MetaCortex. «Meta» stammt aus dem Griechischen und wird oft gleichgesetzt mit «dazwischen, über, übersteigen oder transzendieren». «Cortex» ist der äusserste Teil des Gehirns. MetaCortex überschreitet sozusagen die Grenzen des Gehirns. Ein Vorgeschmack auf das, was Neo später im Film auch tun wird.

Was bedeutet das alles für Neos Persönlichkeit?

Neo hat sich schon in seiner Jugend gegen Autoritäten gestellt. Oder besser: gegen das System rebelliert. Dass er sich später der Rebellion gegen die Maschinenwelt anschliessen würde, überrascht nicht.

Bevor das passiert, hat Neo seinen Hang zum Regelbruch in seinem «zweiten Leben» gefrönt, wie Agent Smith es in der Verhörszene bezeichnet. Dort ist Neo ein Computer-Hacker, der in Computersysteme eindringt und Informationen unter seinem Hacker-Alias «Neo» stiehlt und verkauft. Neo ist übrigens ein Anagramm zum englischen One. Also «dem Einen», oder: «dem Auserwählten».

Im Film sagt Neo, dass er schon sein ganzes Leben lang das Gefühl gehabt hätte, dass mit der Welt etwas nicht stimme. Als ob er nicht wisse, ob er noch träume oder bereits wach wäre. Deshalb hat Neo in seiner Zeit als Hacker versucht, den Mann zu finden, der ihm sagen könne, was mit der Welt nicht stimme: Morpheus (Laurence Fishburne). Woher hat Neo diese Zweifel an der Realität?

Um Baudrillards Ideen verständlicher zu machen, wird sein Werk oft mit der Matrix verglichen. Das funktioniert nur bedingt. Denn im Film gibt es die Realität ausserhalb der Matrix noch, auch wenn sie keine schöne ist. Jeder, der die rote Kapsel schluckt, kann sie aber erkennen. Im Film haben Menschen also eine Wahl. In Baudrillards Welt nicht.

Das Simulacrum ist niemals das, was die Wahrheit verbirgt – es ist die Wahrheit, die die Tatsache verbirgt, dass es keine gibt. Das Simulacrum ist wahr.
Jean Baudrillard
Den Pass siehst du in der Verhörszene oben, wenn du das Bild nach etwa 57 Sekunden anhältst und um 180 Grad drehst.
Tank: «Was brauchst du, mal abgesehen von einem Wunder». Neo: «Waffen. Viele Waffen.»

Neo hat nicht viele Charaktereigenschaften. Aber sie sind da. Er ist trotzig und stellt sich gegen Autoritäten. Wenn nicht offen, dann insgeheim. Er ist nicht auf den Kopf gefallen und war gut in Fächern, die logisches Denken erfordern. Mathematik. Computerwesen. Und er ist belesen. Das macht ihn offen für Neues, aber auch misstrauisch. Abgesehen davon ist Neo durchaus in der Lage, Verantwortung für sich und andere zu übernehmen.

Warum also haben sich die Macher von «The Matrix» so viel Mühe gegeben, all diese Charakterisierungen in so wenigen Sekundenbruchteilen zu verstecken, dass kaum ein Zuschauer Notiz davon nimmt?

Neo ist verdammt generisch – mit Absicht

Was zunächst wie faules Drehbuchschreiben wirkt, ist ziemlich sicher pure Absicht gewesen. Dies, obwohl der Fokus von «The Matrix» auf Neo liegt. Die eigentliche Geschichte beginnt Jahrhunderte zuvor. Nämlich, als Mensch und Maschine gegeneinander Kriege führten und der Himmel sich verdunkelt hat.

«Animatrix – The second Renaissance, Part 1». Teil 2 ist auch auf YouTube.

Aber wo viele Filme mit Exposition bei gefühlt Adam und Eva beginnen, werden wir Zuschauer von den Wachowski-Geschwistern, die den Film geschrieben und Regie geführt haben, direkt ins Geschehen geworfen.

Agenten greifen Trinity (Carrie-Anne Moss) an, die irgendwen beobachtet hat, worauf sie durch ein Münztelefon verschwindet. Keine Zeit für Erklärungen.

Eins bleibt: Neo mag Nudeln. Tun wir doch alle.

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Abenteuer in der Natur zu erleben und mit Sport an meine Grenzen zu gehen, bis der eigene Puls zum Beat wird — das ist meine Komfortzone. Zum Ausgleich geniesse ich auch die ruhigen Momente mit einem guten Buch über gefährliche Intrigen und finstere Königsmörder. Manchmal schwärme ich für Filmmusik, minutenlang. Hängt wohl mit meiner ausgeprägten Leidenschaft fürs Kino zusammen. Was ich immer schon sagen wollte: «Ich bin Groot.» 


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Interessantes aus der Welt der Produkte, Blicke hinter die Kulissen von Herstellern und Portraits von interessanten Menschen.

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