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20 Jahre «Lost» – ein Liebesbrief an die beste TV-Serie aller Zeiten

«Lost» feiert das 20-jährige Jubiläum. Ich habe mir zum Geburtstag der Kult-Serie nochmal alle Episoden am Stück gegeben – und mich erneut in das Inselabenteuer verliebt.

Um den 20-jährigen Geburtstag meiner Lieblingsserie gebührend zu feiern, habe ich mich entschieden, alle Episoden nochmal zu schauen. Bei meinem mittlerweile fünften (oder ist es der sechste?) Re-Run habe ich mich erneut Hals über Kopf in dieses einzigartige Stück Fernsehgeschichte verliebt. Ich erkläre gerne, wieso.

Warnung: Falls du «Lost» noch nicht gesehen hast, hör auf zu lesen. Es folgen Spoiler zu den grössten Mysterien und Handlungssträngen der Serie.

Eine «Mystery-Box», die sich Zeit lässt

Charlie fasst die absurden Geschehnisse der ersten Episode mit vier Worten zusammen, die sich für immer in das Kollektivgedächtnis der «Lost»-Fangemeinde eingebrannt haben: «Guys, where are we?»

Glaube versus Wissenschaft

Ich bin mir sicher, dass viele der ikonischen «What the Fuck»-Momente der Serie ohne die teilweise extrem lange Wartezeit zwischen Frage und Antwort nicht die gleiche explosive Wirkung gehabt hätten. Logisch – je mehr ich auf etwas warten muss, desto spannender die Enthüllung. Das langsame Enthüllungstempo erfüllte aber noch einen weiteren Zweck.

Die Zuschauer mussten zunächst langsam und behutsam an die Antworten zu den ganz grossen Mysterien herangeführt werden, die oft irgendwo zwischen Science-Fiction und Magie zu verorten sind. Wenn mir jemand vor der ersten Episode die unten eingebettete Zusammenfassung gezeigt hätte, hätte ich wohl gar nicht erst eingeschaltet – das wäre mir alles «too much» gewesen.

Die Insel ist in Wahrheit also ein zeitreisender «magischer Korken», der verhindern soll, dass ein böses «Rauchmonster» in die Welt entflieht? Die Passagiere wurden von einem unsterblichen Mann namens Jacob auf die Insel geholt, um selbst unsterblich zu werden und ihn zu ersetzen? Und in der letzten Staffel erhalten wir einen Blick in die Zeit nach dem Tod der Charaktere? Das hört sich doch absolut bescheuert an!

Während der sechs Staffeln habe ich aber langsam angefangen zu akzeptieren, dass nicht alle Mysterien wissenschaftlich beantwortet werden. Stück für Stück habe ich mich an die übernatürlichen Sci-Fi-Elemente der Show gewöhnt. Ich habe eine ähnliche «Heldenreise» wie der Hauptcharakter der Serie, Jack Shephard, durchgemacht.

Der Neurochirurg hat die Ereignisse auf der Insel zunächst rational und wissenschaftlich betrachtet. Deshalb stand er oft im Clinch mit dem Survival-Experten John Locke. Dieser war vor dem Absturz querschnittsgelähmt. Aufgrund seiner wundersamen Heilung auf der Insel war er von Anfang an überzeugt, dass er und die anderen Überlebenden aus einem bestimmten Grund auf die Insel geholt wurden. Er hat an die Insel geglaubt und das Übernatürliche von Anfang an akzeptiert.

Erst in den späteren Staffeln konvertierte Jack von der Wissenschaft zum Glauben. Er hat eingesehen, dass Locke recht hatte. Dass die Insel ein spezieller Ort ist und es ihr Schicksal ist, hier zu sein.

Mit Jacks zunehmendem Glauben wurden auch vermehrt die grossen Mysterien der Serie näher beleuchtet und Themen wie Zeitreisen, parallele Dimensionen und das Leben nach dem Tod angeschnitten. «Lost» hat es wie keine andere Serie seither geschafft, all diese verrückten Elemente im Verlauf der Jahre zu einem kohärenten Ganzen zu formen.

Flashbacks, Flashforwards und Flashsideways

All die abgefahrene Mythologie, die in «Lost» behandelt wurde, hätte niemals so gut ohne die hervorragend geschriebenen Charaktere funktioniert. Der über 20-köpfige Cast ist das wahre Herz der Serie und hat den verrückten Mysterien ein realistisches Fundament geliefert.

Trotz der hohen Anzahl an Hauptcharakteren habe ich diese nicht nur oberflächlich kennengelernt. Das liegt zu einem grossen Teil an der speziellen Erzählstruktur von «Lost». Pro Episode stand in der Regel jeweils einer der Überlebenden im Fokus. Die Vergangenheit des Charakters wurde parallel zur Inselgeschichte mit Flashbacks – zu Deutsch: Rückblenden – erzählt.

Besonders toll fand ich die Abwechslung, die diese charakterorientierte Erzählweise mit sich brachte. Die Geschichte des koreanischen Paares Sun und Jin war eine tragische Love-Story. Hurleys Kampf mit den «verfluchten» Zahlen brachte viel Humor und Herz in die Serie. Und mein Lieblingscharakter, der verpeilte Mann in der Luke Desmond Hume, brachte mit seinen Zeitreise-Flashbacks beinahe das Raum-Zeit-Kontinuum durcheinander.

Auch die anfangs mysteriösen eingeborenen «Others» wurden mit Flashbacks zu «echten» Charakteren geformt – allen voran der Ober-Manipulateur und notorische Lügner Benjamin Linus und die Ärztin Juliette Burke, die genauso wie die Passagiere des Flugzeugs von der Insel fliehen wollte.

Die charakterbezogenen Rückblenden haben dafür gesorgt, dass die oft verrückten und übernatürlichen Erzählelemente von der Insel mit nachvollziehbaren Geschichten aus der «echten Welt» geerdet wurden.

Der grosse Twist wurde erst in den letzten Minuten der Episode enthüllt. Ein bärtiger und offensichtlich zugedröhnter Jack fleht Kate an, dass sie «zur Insel zurückkehren müssen». Es ist der Punkt, an dem der bisher rational denkende Arzt definitiv zu einem Gläubigen wird. Jacks verzweifeltes «We have to go back» ist das vielleicht ikonischste Zitat der ganzen Serie und einer der grössten Plot-Twists der Fernsehgeschichte.

«Lost» war nicht perfekt

Bei all der Lobhudelei muss auch ich zugeben, dass «Lost» nicht perfekt war. Einige Handlungsstränge, wie zum Beispiel die übernatürlichen Kräfte von Walt, wurden zunächst gross aufgebauscht und dann grösstenteils unter den Teppich gekehrt. Die Serie hatte zudem grosse Pacing-Probleme. Die ersten drei Staffeln sind bisweilen zu langsam und gestreckt mit Filler-Episoden, weil der Sender abc die Cashcow «Lost» am liebsten ewig in die Länge gezogen hätte.

Alle Fragen wurden beantwortet

Kein Verständnis habe ich jedoch für Kritiken, die aufgrund von Fehlinformationen und falscher Interpretation des Gezeigten entstanden sind. Die uninformierten oder falsch informierten «Lost»-Nörgler lassen sich grob in zwei Kategorien unterteilen.

Kategorie Eins: Jene Menschen, die bis heute felsenfest überzeugt sind, dass der grosse Twist der Serie ist, dass «alle die ganze Zeit tot waren». Das. Stimmt. Nicht.

Man kann die spirituellen Inhalte der Serie und die Flashsideways-Welt mögen oder nicht – aber wenn man sie kritisiert, sollte man sie wenigstens verstanden haben. Jacks toter Vater Christian erklärt es in der letzten Episode eigentlich perfekt und unmissverständlich. Es ist mir ein Rätsel, wie man das irgendwie anders auslegen kann.

Kategorie Zwei: Jene, die behaupten, dass viele Fragen gar nie beantwortet wurden. Dass das Autorenteam ohne konkreten Plan einfach Zeug erfunden hat. Ich sage: Bullshit. Jede einzelne Frage wurde beantwortet. Ich fordere jeden in den Kommentaren auf, eine Frage zu stellen, die er oder sie für unbeantwortet hält – ich bin eine lebende «Lost»-Enzyklopädie und werde dir das Gegenteil beweisen.

Ich will mehr

Nach meinem Jubiläums-Re-Run verspüre ich eine Leere in mir. Ich brauche mehr. Ich finde es erstaunlich, dass seit dem Ende der Serie nichts mehr mit dem Franchise angestellt wurde. Die jahrhundertelange Geschichte der Insel würde viele Anknüpfungspunkte für Spinoffs, Prequels oder Sequels geben.

Andererseits bin ich auch froh, haben wir keine unnötigen zusätzlichen Geschichten serviert bekommen. So bleibt «Lost» in einer Welt, in der jede Serie, jeder Film und jedes Game bis zum Gehtnichtmehr ausgeschlachtet wird, eine in sich abgeschlossene Rarität.

Es bleibt mir nichts anderes übrig, als den sechsten (oder wird es der siebte?) Re-Run und den vierten Flug nach Hawaii einzuplanen. I have to go back.

Titelbild: abc Studios

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Meine Liebe zu Videospielen wurde im zarten Alter von fünf Jahren mit dem ersten Gameboy geweckt und ist im Laufe der Jahre sprunghaft gewachsen.


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