Figaro illustré: Berlin 1907

Ein Porträt und moralisches Bild der Hauptstadt des Deutschen Reiches aus französischer Sicht.

Mit dem Sieg über Frankreich im Jahr 1871 und der Wiederherstellung des Deutschen Reiches wurde Berlin zum Schauplatz atemberaubender städtischer Entwicklungen. Bis heute ist es dazu bestimmt, „immer zu werden und niemals zu sein“ (Karl Scheffler, 1910). Als junger Student der Theologie und Philosophie landete Charles Bonnefon (1871-1935), Korrespondent für Le Figaro, in Göttingen und schliesslich in Berlin, wo er ein tiefgehender Kenner des kulturellen Lebens wurde. Frankreich war nach dem verlorenen Krieg und dem Verlust von Elsass-Lothringen zutiefst gedemütigt. Die wirtschaftliche Entwicklung der Gründerzeit, die auch durch die Reparationszahlungen ermöglicht wurde, sowie die Fortschritte in Wissenschaft und Technologie in Deutschland fanden Respekt, doch das grobe Verhalten und der wachsende Militarismus wurden als Bedrohung wahrgenommen. Diese zweisprachige Ausgabe, die erstmals auf Deutsch veröffentlicht wird, stellt den Text dem französischen Original gegenüber, um Bonnefons dichte, ausdrucksstarke und bewusste Sprache zu würdigen. Neben erklärenden Fussnoten wird der Text durch eine Biografie des Autors ergänzt, der zu Beginn des Krieges eine anti-preussische Haltung einnahm und eine häufig veröffentlichte Geschichte Deutschlands schrieb. Das Heft wurde von Moritz Coschell (1872-1943), einem Wiener Maler, der das kulturelle Leben Berlins nach 1900 bereicherte, illustriert. Er machte sich als Gesellschaftsporträtist einen Namen, und sein Atelier erhielt sogar kaiserlichen Besuch. Mit Ausbruch des Krieges trat er als Kriegsmaler in die k.u.k. Armee ein. Danach konnte er nicht mehr an seinen Erfolgen anknüpfen. Als Jude verfolgt, starb er einsam und krank in Wien. Seine markanten Werke, die durch einen sphärischen expressionistischen Stil geprägt sind, bedürfen der Wiederentdeckung. Der Text und die Illustrationen tragen zu unserem Verständnis der wilhelminischen Ära und der Entfesselung des Krieges durch ihre externe Perspektive bei.